Editorial

 

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

haben wir uns nicht alle eine kleine Belohnung verdient? Der missglückte Sommer ist fast vorbei, also lassen wir uns umfangen von den wärmenden Lichtern unserer Flüsterkneipe, lassen uns einfangen von bunten Verheißungen exotischer Getränke, lassen uns abfangen vom freundschaftlichen Kuss aus dem Urlaub zurück gekehrter Freunde.

Lassen wir uns verführen von sentimentalen Klängen, tanzenden Lichtschatten, flackernden Bildern, betörenden Worten – kurz: von “México Picante”.

Wer nicht kommt, ist selber schuld. Dennoch bieten wir allen Verzagten, Verhinderten, Verweigerern hier einen kostenlosen Einblick in das hinreißende multimediale Geschehen vor Ort (es startet heute, am 3.9., mehr dazu weiter unten).

Zugegeben, Bescheidenheit ist (dieses Mal) nicht Zier unseres “Escapade belles-lettres”. Muss ja auch nicht immer sein, finden

Eure,
Flora Jörgens und Silke Vogten

Foto: Flora Jörgens

México real

Der lange Weg nach Tlalocán

Majestätischer konnte man den Tag nicht beginnen. Es war zwölf Uhr mittags, und am Tresen standen nur die fanatischsten Getreuen des “Centenario”: Der Polizeifahnder Gaspar mit den ausgemergelten Wangen, dem Günter-Netzer-Schnitt und der Kellerporno-Brille; Humberto der Ex-Ringer, der jeden Gast aufgekratzt an seinen Brustkasten quetschte und mit „Monsieur, welch große Ehre!“ anredete; der kleinwüchsige Makler Pepe del Díaz, der in seinem gemütlichen, nordmexikanischen Dialekt am liebsten von den Schlägereien seiner Jugend erzählte und jeden einzelnen Leberhaken liebevoll detailliert nachstellte. Sie alle waren Menschen, die sich eher die Hand hätten abhacken lassen, als auch nur eine Stunde von den Öffnungszeiten des “Centenario” zu verpassen.

Ich setzte mich an einen freien Tisch, zündete mir eine Zigarette an und pustete den Rauch zur Decke hoch, wo er sich mit der Qualmwolke vereinigte, die die anderen Gäste seit Stunden produzierten.

-„W-w-was t-trinkst du?“, fragte der Geschäftsführer des “Centenario”. Sein Indianergesicht war wie immer lila angelaufen, die Augen von einer Schilddrüsenkrankheit aus den Höhlen getrieben. Vom Geschäftsführer des “Centenario” war bekannt, dass er keine – wie auch immer gearteten – Fähigkeiten besaß und sich in seine Position vermutlich hochgesoffen hatte. Normalerweise stand er in einem abgetragenen Anzug neben der Bar und kontrollierte die Kasse, doch heute hatten die Gäste die Ehre, von ihm persönlich bedient zu werden.

Ich warf einen Blick auf die Preistafel an der Wand. Mit Steckbuchstaben stand da D m cq S l ra 30 $ und C s R ga 45 $, was irgendwann einmal Domecq Solera und Chivas Regal geheißen haben mochte, aber so raffinierte Spirituosen bestellte im “Centenario” schon lange niemand mehr. Ich entschied mich für einen „Bull“ – ein Glas Bier mit einem Schuss Irgendwas, je nach Gusto des Barkeepers Zuckerrohrschnaps, Tequila, Rum, Brandy oder Anis, oft auch alles zusammen kombiniert. -„B-B-BULL!“, schrie der Geschäftsführer in Richtung Bar. Binnen Sekunden stand der Bull auf meinem Tisch, ich nippte am Glas und bekam eine Gänsehaut: Der Barkeeper war ein Freund der Kombination.

Zur Mittagszeit herrschte im “Centenario” eine ganz besondere Atmosphäre: Das leise Klirren der Gläser, die Gedämpftheit der Geräusche, das intime Flüstern der Gäste – alles hatte etwas Unschuldiges, Jungfräuliches, Morgendliches. Außer den Trinkern am Tresen versammelten sich mittags vor allem Menschen, die sich durch Höflichkeit und Ruhe auszeichneten: Politiker aus den umliegenden Ministerien, die Dominosteine auf die Tische klopften und sich einander mit zuvorkommender, fast tuntiger Zärtlichkeit behandelten. Geschäftsmänner mit altmodischen Anzügen, die unter den Tischen die Händchen ihrer Sekretärinnen hielten und mit ihnen Cuba Libres und Brandy Colas vertilgten. Journalisten der angrenzenden Verlagshäuser, die das Weltgeschehen erörterten und sich beim Sprechen gegenseitig den Vortritt ließen. Liebenswürdigkeit, Eintracht und Streicheleinheiten, wohin man blickte... Und was das Bild des Friedens krönte: All diese Menschen tranken. Jeder hatte hochprozentige Gemische vor sich stehen, und jeder wirkte entschlossen, die nächsten Stunden stetig nachzubestellen.

Während ich knappe Schlucke von meinem „Bull“ nahm, dachte ich an die grauenvolle Woche, die ich einmal in San Antonio, Texas, verbringen hatte müssen. Schon in der ersten Nacht hatte ich einen Kulturschock erlitten: In San Antonio trank niemand, egal zu welcher Uhrzeit und an welchem Wochentag. Ich klapperte dort jedes Pub, jede Bar und jedes Ale-House ab, doch nirgendwo saß ein Mensch, der einem beim Trinken Gesellschaft geleistet hätte. Nach zwei Tagen war ich so verzweifelt, dass ich schon das Telefonbuch auf der Suche nach Zechkumpanen durchblätterte und kurz davor stand, mir unbekannte Bürger wie Biersack Robert (Timberwild Drive 1001), Saufwein Ginna (Montford Road 622) oder Trinklein Timothy (Settler's Valley 2883) anzurufen, um sie zu einer Kneipentour zu beschwatzen.

Mexiko dagegen wimmelte von Männern und Frauen, die ein klares, deutliches Ja zur Sucht sprachen. Die befreiende Heiterkeit, mit der in den Cantinas die Mittagspausen angegangen wurden, gab jedem Tag ein Urlaubsflair. Sicher, gegen Abend wandelte sich die Atmosphäre: Konflikte kochten hoch, die Handlungen der Gäste entgleisten und die Gesichter ähnelten immer mehr den Fratzen eines Höllensturzes von Pieter Breughel. Doch in den Mittagspausen waren Cantinas wie der “Centenario” ein Ort tantrischer Ruhe.

Zugegeben: Vielleicht waren all die anwesenden Politiker korrupte Ausbeuter, die das Land molken und sich mit schmutzigen Tricks auf den Thron gehievt hatten, vielleicht waren all die Geschäftsmänner unfähige Betrüger, die nur durch Nepotismus ihre Posten ergattert hatten. Aber andererseits: Waren wir wirklich fähiger und rechtschaffener? Befummelten wir nicht irgendwelche Mätressen in roten Bums-Kostümchen, unter denen sich Fettschwarten abzeichneten, kurz nachdem wir unsere Freundinnen mit denselben Phrasen von ewigwährender Liebe ruhiggestellt hatten, die Luis Miguel gerade aus der Musikbox sang? Es war der Waffenstillstand zwischen uns und dem Schmutz des Lebens, der den “Centenario” mittags so kostbar machte. Mittags im “Centenario” zu sitzen – das bedeutete das größtmögliche Einverständnis mit der Welt.

Diese Wurstigkeit, die man hier spürte, war im selben Maß schon bei den Azteken und ihrer Jenseitsvorstellung zu finden. Die Bevölkerung von Tenochtitlán glaubte an drei verschiedene Bereiche für die Seelen der Toten. Die Zugangsberechtigung entschied sich dabei nicht durch das Verhalten im Leben, sondern allein durch die Todesart: Das Gros der Menschen siedelte nach dem Tod in eine obskure, ereignislose Geisterwelt über, in der man sein Dasein als Schatten fristete. Die Menschen, die a) im Krieg fielen, b) vom Gegner geopfert wurden oder c) als Spione starben, durften mit dem Gott Tezcatlipoca um die Sonne kreisen – ein ebenso elitäres wie langweiliges Vergnügen. Das wirkliche Paradies dagegen war das Unterweltreich Tlalocán, das der Regengott Tlaloc verwaltete. Es winkte denen, die am flüssigen Medium zugrunde gingen: Ertrunkene, vom Blitz Erschlagene und, so durfte man ergänzen, die Trinker des “Centenario”.

Bei diesem Gedanken bestellte ich einen neuen Bull.

Stefan Wimmer

Der Beginn des ersten Kapitels von “Der König von Mexiko” von Stefan Wimmer, erschienen bei Eichborn, (Taschenbuch: Heyne). Stefan Wimmer ist Münchener und kommt ganz sicher in den Himmel, wenn es da Weißbier gibt.

Foto: Flora Jörgens

México Picante

Der kurze Weg zu Bacchus

Was passiert: über die Leinwand werden bunte und schwarz-weiße mexikanische Skurrilitäten flimmern, Stefan Wimmer, der auch seine CD "Mexican Boleros - Songs of Heartbreaking, Passion & Pain 1927-1957" (Trikont) mitbringt, hat über seine alten Kontakte ganz schräges Filmmaterial organisiert.
Ein Hörstück von Tom Noga stellt den legendären Playboy Teddy Stauffer vor, der in den 60er Jahren als „Mr. Acapulco“ galt. Einen Ausschnitt findet Ihr weiter unten, allerdings nur in der Textversion. In Köln gibt es am 6.9. alternativ zu hören: "Todos Santos".
Dann liest Stefan Wimmer; in Köln aus "Die 120 Tage von Túlum", an den anderen drei Orten aus "Der König von Mexiko". Beide Episodenromane bauen aufeinander auf.

„Der König von Mexiko ist eine gewollt unkünstlerische, prall lebenssatte Groteske über Sex, Rauschmittel aller Art und die mexikanische Upperclass aus Sicht eines verlotterten Deutschen in Mexiko City“, schreibt die SZ über sein Buch. Und weiter: „Wimmers König von Mexiko taumelt vom Tresen in fremde Betten und überhaupt von einer Katastrophe zur nächsten, lässt die Gedanken über seine Existenz in Hochprozentigem schwimmen und beschreibt das ihn umgebende Panoptikum aus Säufern, Huren und Irren mit der komischen, metaphorischen Wucht eines Hunter S. Thompson, Raymond Chandler und Jörg Fauser... Seine Prosa zeichnet sich durch eine Kraft aus, die manch anämischer Nachwuchsgrübler vergeblich rund um den eigenen Bauchnabel zu aktivieren sucht.“ Focus nannte Wimmer sogar den „neuen deutschen Hemingway“.

Die Termine: Freitag 3.9. Raisting, NBO, 20.00 h / Sonntagnachmittag 5.9. Monheim, Sojus 7, Kapellenstr. 38, 17.00 h / Montag 6.9. Köln, Fiffi-Bar, Severinswall 35, 20.00 h /Mittwoch 8.9. Wuppertal, Alte Feuerwache.

Reservierungen unter: 0176/62 92 65 69 oder Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

"Corso" im DLF wird am 3.9. zwischen 15.05-16.00 Uhr über unser Programm berichten, und bei Radio 94,5 in München waren wir letzten Sonntag eine Stunde lang zu Gast in der Sendung "Calor Latino".

 

Foto: Flora Jörgens

México estraño

Der weite Weg nach...

Rahel Ávila trägt zerrissene Designer-Jeans, weißes Knitterhemd und kunstvoll zerzauste Haare auf denen die dicke schwarze Sonnenbrille eines Edelherstellers thront. Er lehnt an der gähnend leeren Poolbar der Villa Vera – einst die erste weltweit, wie er bemerkt. Hinter der Bar plätschert ein Wasserfall. Um den Pool herum Liegestühle mit blau-weißen Matratzen. Sonnenschirme mit Strohdach spenden Schatten.

„Teddy Stauffer war der erste Geschäftsführer dieses Hotels. Er hat es zu einem wirklich internationalen Haus gemacht und einen Stil kreiert, den eine gewisse Klientel gesucht hat. Um hier zu übernachten, genügte es nicht, das Zimmer bezahlen zu können, hier kam man nur auf Einladung rein. Und eingeladen wurde man nur auf Empfehlung oder wenn man berühmt war – und wenn man keinen Anstoß am Lebensstil nahm, der hier gepflegt wurde.“

Der Lebensstil, der hier gepflegt wurde? Rahel macht eine kunstvolle Pause und nippt an einer Corona. „Ich könnte stundenlang Anekdoten erzählen von berühmten Leuten, die hier Dinge, nun ja: jenseits der Norm gemacht haben. Der Lebensstil hier war von Exzessen geprägt. Dies war ein Hotel nur für Erwachsene, hier war vieles erlaubt, es gab keine Restriktionen."(...Acapulco)

Baja California, Richtung Süden. Ein Mind-Trip seit jeher. Wer die Grenze nach Mexiko überquert, den erwartet ein neues Leben. Beginnt oder endet hier der amerikanische Traum? Kommt darauf an, ob der Reisende auf der Flucht oder auf der Suche ist.

Hat man erst einmal die Schuppen mit billigem Tequila und Andenkenramsch hinter sich gelassen und die letzten Ausläufer des ausfransenden Molochs Tijuana, beginnt der Highway zu flirren. Wie ein ausgestreckter Finger ragt die mexikanische Halbinsel Baja California in den Pazifik, ab jetzt 1.800 Kilometer lang. bis zur Kuppe: Los Cabos. Und von dort geht es nur noch in eine Richtung: wieder zurück. Ein Fingerzeig? Wenn man bis dahin nicht sein Glück gemacht hat, was dann?

Die Sonne brennt ihr senkrechtes, grellgelbes Licht Links rotbraune, ockergelbe, mehlweiße Wüste, knallgrüne Kakteen, rechts der schäumende, unergründlich blaue Pazifik, der an die schroff abfallende Küste schlägt.

Die Autofenster sind herunter gekurbelt, ein kühlender Wind zerrt an den Haaren, verwirbelt die Strähnen, lässt sie vor den Augen tanzen, nur der süßliche Marihuanaduft fehlt. „Warm smell of colitas“ - die Zeiten haben sich geändert.

Eine Autostunde vor Los Cabos zweigt eine staubige Piste ab nach Todos Santos, Allerheiligen. Das älteste Hotel am Ort, soll das Hotel California sein, das jeder kennt, seit es die Eagles in ihrem Welthit besungen haben. (...Todos Santos)

Tom Noga

Ein Hotel nur für Erwachsene... Tom Noga, Köln, mag vor allem den Namen Villa Vera. Seine Reportage über Acapulco lief beim „Sonntagsspaziergang“ im Deutschlandfunk (Redaktion: Andreas Stopp). Am 6.9. in Köln wird Todos Santos vorgestellt, ein Ort, der, so heilig er auch klingt, von einer großen Lüge lebt.

Foto: Flora Jörgens

Ungelogen: das einzig echt-mexikanische auf den Fotos ist das Getränk, ein Mojito. Die Fotos entstanden im „Havana“ in Köln, das Model ist Khadija, unsere Lieblingsbedienung aus dem „Stanton“.