Editorial

 

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

die Party ist vorbei… und der Tanz kann beginnen! Noch glücklich erschöpft von der gestrigen Premiere des „Chambre Privée“ in Köln heißt es nun, in der letzten Nacht des Aprils: Tanzt!

Ohne viel Worte zu machen, geben wir uns deshalb in der aktuellen Ausgabe von Escapade dieser Versuchung hin.

In Fotos und in einer Story, die Euch mitnimmt auf die verlockende Tanzfläche…

Lest selbst, seht selbst, habt Spass – und tanzt fulminant in den Mai.

Eure,
Silke Vogten und Flora Jörgens

Treibgut

 

Die schöne Wanda stellte sich in den Goldregen wie die Goldmarie im Märchen der Frau Holle. Doch Frau Holle gab es hier nicht, und so machte sie den Goldstaub selbst, ließ ihn auf ihre helle Haut rieseln und folgte mit den Augen entzückt kleinen, flirrenden Glitzerpartikeln. Dann lächelte sie sich mit kirschrot geschminktem Mund im Spiegel zu. „Partytime“, flüsterte sie. Als sie endlich geschminkt und parfümiert aus dem Bad kam, saß ihr Freund Gregor bei Kerzenschein am alten Küchentisch und bearbeitete mit seiner Krankenkassenkarte und geübter Finesse das Zauberpulver. Sie trat hinter ihn, küsste seine hellen Haare und sah ihm eine Weile zu. Eine süße Vorfreude machte sich in ihr breit, ein kleines Aufgekratzsein, ein euphorisches Glucksen im Kopf. Er rollte den blauen Geldschein zusammen und zog eine der beiden Lines mit einer kurzen Pause weg. Sie machte es ihm nach. Das übliche kollektive Nasehochziehen begann und Gregor sagte mit einem langen Blick auf die glitzernde Wanda: „Du siehst phantastisch aus.

Eine dunkelblaue Nacht hatte sich herabgesenkt, als sie zu der kleinen Schiffspartie aufbrachen. Der Sommer nahm seinen Abschied, und der Himmel war so sternenklar, dass die Kälte sich ihren Weg bahnen konnte, ohne die kleinste Wolke zu belästigen. Wanda hüllte sich enger in ihre Jacke. Sie trug darunter einen dünnen Fummel, ein mit goldfarbenen Pailletten besetztes Nichts, das ihre schlanken Beine freizügig preisgab. Sie fror. Gregor hielt wie immer noch mal an der Tankstelle, um sich einen dieser süßen Drinks zu holen, die mystische Namen nach Art der Indianer trugen und die schmeckten wie geschmolzene Gummidrops auf Zuckerwatte. So blieb Wanda alleine im Auto, zurück im blauen Neonlicht und beobachtete das Treiben rings um sie herum. Autos kamen und fuhren wieder davon. Junge Menschen stiegen aus, Männer, wenige Frauen, hastig, holten sich letzte Details an diesen nächtlichen Supermärkten. Sie alle bereiteten sich auf die späten Stunden vor. Freitagnacht. Die Partys. Autotüren wurden zugeschmissen. Musik platzte aus geöffneten Scheiben, waberte die Zapfsäulen hoch und wurde wieder eingesperrt. Dumpfe, elektronische Töne, die langsam in ihren Körper schlichen. Wanda sah Gregor im erleuchteten Geschäftsraum in der Schlange warten und ließ ihren Blick auf seiner vertrauten, schmalen Gestalt ruhen. Einer unter vielen. Aber dieser würde gleich zu ihr kommen, und zusammen würden sie durch die Nacht fliegen. Wanda betrachtete ihr eigenes Bild im Außenspiegel, ihre roten Haare schimmerten violett in diesem Licht, und sie konnte nicht aufhören, in dem kleinen Ausschnitt unermüdlich und fasziniert ihr hübsches Gesicht zu spiegeln. Ein feines, ununterbrochenes Lächeln hatte sich in ihren Mundwinkeln eingenistet, von ihr kaum bemerkt. Dann kam Gregor endlich wieder, sie küssten sich und fuhren los.

Sie flogen durch die blaue Nacht

Sie flogen durch die blaue Nacht, nahmen die Schnellstraßen: Er fragte: „Ist dir kalt?“ und wärmte kurz ihre Hand. Beide waren noch jung und nun seit über zwei Jahren ein Paar. Die Lichter der entgegenkommenden Autos rauschten an ihnen vorbei, die verschwommenen Farben, die aus der Dunkelheit kamen. Sie sahen den weit entfernten Lichtschein der Häuser, in denen Menschen vielleicht gleich schon schlafen würden, das hellblaue Flackern tausender Fernsehgeräte. Das Rot der Ampeln, bunte Neonreklamen, der milchige Schein eines abnehmenden Mondes, die Sterne. So hätte ihr Flug vielleicht immer weitergehen können.... Doch als ein Tunnel kam, wurde das Licht hell und biss Wandas Augen. Die Musik aus dem Radio verwandelte sich in ein Rauschen, und sie rasten durch diese strahlend beleuchtete Röhre, weiß gekachelte Wände, weiße Neonstäbe über sich. „Wir rutschen mit dem Arsch über die Autobahn und befinden uns im 21. Jahrhundert“, dachte Wanda. Denn der Tunnel war noch heller als ihr Köpfchen und drängte ihr jedes Mal diesen Gedanken auf, mit dem sie nichts anfangen konnte.

Am Anlegesteg trafen Wanda und Gregor Freunde und flüchtige Bekannte, mit denen sie durch diese letzte Nacht des Sommers tanzen wollten. Aufgeregte Umarmungen in Erwartung dessen, was vor ihnen lag, wurden ausgetauscht. Es war, als stimmten die Musiker eines Orchesters vor der großen gemeinsamen Sinfonie wild durcheinander ihre Instrumente. Sie standen an der Mole, rauchten Zigaretten und tranken rosaroten Likör, den der Gastgeber Jonas in kleinen Plastikbechern großzügig verteilte. Unter ihnen schaukelte das Schiff auf dem schwarzen Wasser des Flusses. Bunte Glühbirnen, gelb, blau, grün, rot, orange, schmückten es, genau wie ein roter, schon abgewetzter Teppich. Wanda lehnte sich über die Mole und betrachtete von hier oben das weiße Schiff, auf dem sie schon einige Male bei verschiedenen Housepartys unterwegs gewesen war. Und dieses Schiff erschien ihr an diesem Abend seltsam real, sie bemerkte verwundert, dass es sogar einen Namen hatte: MS Treibgut. Sie drehte sich um, und einen Augenblick lang musterte sie Gregor, der dort unter den Anderen stand, sah ihn lachen und verspürte eine schmerzhafte Lust wegzugehen. Doch stattdessen ging sie zu ihm, küsste ihn zärtlich und ließ sich von ihm umarmt halten, während sie die Anderen aus den Augenwinkeln musterte. Wer hier was tagsüber machte und arbeitete, wurde nun in der Nacht unbedeutend, und kaum jemand fragte danach. Schöne Frauen waren versammelt, die meisten gaben ihr Äußerstes, sie hatten sich mächtig aufgestylt, trugen frivole Kleider, Modeschmuck, stolzierten auf High-Heels, zeigten viel Haut und die Bereitschaft, sich zu amüsieren. Wanda würdigte diesen Aufwand – wenn sie auch im Bruchteil von Sekunden auf einer imaginären Skala ohne wirkliche Zahlen gnadenlos abschätzte. Die Blicke, die sie verteilte, kamen geschmeidig zurück. Von oben nach unten wieder nach oben. So war das Spiel. Mit den anwesenden Männern verhielt es sich noch anders. So ließ Wanda gelangweilte Blicke streifen, verweilte bei Interesse einen Wimpernschlag länger, um sie sogleich sanft weitergleiten zu lassen, erwiderte jemand erwartungsfroh ihren Blick. In diesem Augenblick liebte Wanda Gregor, und sie liebte die Gegenwart. Denn sie fühlte sich in einen prächtigen, warmen Mantel aus Überheblichkeit gehüllt.

Rheinländer sind lustig – also taten sie ihr Möglichstes…

Das Boot legte ab, und sie fuhren auf dem Rhein. Rheinländer sind lustig – also taten sie ihr möglichstes. Gregor, ein blonder junger Mann, der neben seiner charmanten Liebenswürdigkeit über eine seltsame Mischung aus Schüchternheit und Maßlosigkeit verfügte, hatte seiner Freundin Wanda, deren Aufmachung ihn an diesem Abend besonders reizte und mit Besitzerstolz erfüllte, ein Glas Sekt gebracht. Eng umschlungen erkundeten sie zusammen die Gänge, die vielen steilen, schmalen Treppen, die sich mit fortschreitender Nacht immer abenteuerlicher gestalten würden. An den warmen Abenden der vorangegangenen Bootsfahrten hatten die meisten Partygäste auf dem Deck getanzt, ihre Gesichter, die Haare und Kleider in den Fahrtwind gehalten. Nun war hier fast niemand. Nur der Kapitän stand hinter geschlossenen Glasscheiben am Ruder, ordentlich in weißer Kapitänskluft, ein Mann von etwa Mitte Fünfzig mit ergrautem Bart. Zu Anfang hatte Wanda sich noch gefragt, was er wohl dachte, wenn all diese netten, jungen Leute um ihn herum sich im Laufe der Stunden in verstrahlte Wesen von einem anderen Stern zu verwandeln schienen, obszön und unberechenbar. Aber der weiße Kapitän schien darüber nie nachzudenken. Er stand dort, trank manchmal etwas und sagte wenig. Vielleicht honorierte der Gastgeber Jonas des Kapitäns duldendes Schweigen mit besonderem Sold, dachte Wanda. Draußen zog die Nacht vorbei, das kleine Schiff bewegte sich langsam aus dem schmalen Hafenbecken, schwere Brückenpfeiler und alte Industriegebäude glitten dunkel und massiv vorüber.

Unter Deck fragte ihr gemeinsamer Freund Mirko, der mit der dreidimensionalen Animation von Riesenwellen, Monstern und Tornados in TV-Filmen sein Geld verdiente: „Wollt ihr eine Discotablette?“ Sie sagten ja. Er fragte sie immer, und sie sagten immer ja. Ein Ritual, auf dass beide ungeduldig warteten. Wanda sah zu Gregor, der neben Mirkos Freundin stand, und ihr mit den Augen auffordernd zuzwinkerte. Sie biss die eine Hälfte vorsichtig ab und ging langsam zu einem der runden Fenster, wo sie die andere Hälfte der Pille in ihrer Puderdose unterbrachte. Alice im Wunderland, dachte Wanda. Denn ab und zu schluckte sie alles auf einmal und wollte noch mehr. Aber in manchen Nächten knabberte sie wie an einem Riesenpilz an der Spaßtablette herum, um auf die Dinge zu warten, die ihr begegnen würden. Sie drehte sich zur Tanzfläche und sah den ersten Tänzern zu. Buntes Gemurmel. Ein Hin und Her, ein Kommen und Gehen, Begutachten. Treppen rauf, Treppen runter. Ein Einrichten, Beobachten. Langsames Eintauchen. Wanda gehörte nicht zu den Menschen, die auf Partys viel kommunizierten. Die Bekanntschaften dieser Nächte blieben meist flüchtig und spurlos. Es schien Wanda, als lösten sich ihre Worte in unnötige Sprechblasen auf, große Bubblegums, die schwerfällig am Boden kleben blieben. Sie war so gefangen in den Gesten und Gesichtern der Anderen und so bemüht, sich in diesem Reigen wahrzunehmen und glanzvoll einzufügen, dass ihr jedes Wort als verlorene Anstrengung erschien. So lächelte dieses rothaarige Mädchen mit großen hellen Augen einfach euphorisch in fremde Gesichter, nur um sich selbstverliebt in ihnen zu spiegeln und wanderte alleine mit dem Strom der Gäste durch den Bauch des Schiffes. Ab und zu trieb es sie wieder zu Gregor, der, ein Glas Gin Tonic in der Hand, mit Freunden plauderte und sie dabei festhalten wollte. Sie entzog sich, und er warf ihr einen verwunderten Blick zu. Das reizte sie. An allen vergleichbaren Abenden war er ihr Fixstern unter all den anderen gewesen. Doch heute war es anders. Sie war im Sog eines unruhigen Umherstreichens, der anderen Männer und Frauen, der Lichter, der Musik.

An eines der runden Fenster gelehnt, schob sie die roten Samtvorhänge zur Seite und sah durch das Fensterglas unter sich das Wasser des Flusses, in dem sich die Lichter spiegelten. Hier war das Hafenbecken fast zu Ende, der Fluß wurde breiter, und das Ufer entfernte sich. Sie fuhren unter einer Steinbrücke hindurch, und Wanda hob den Kopf, doch sie sah nur Düsternis und das Relief der vorbeigleitenden Steine. Früher schafften sie hier Kohle durch, Kohle und Stahl, und jetzt Leute wie sie. Eine seltsame Region, in der die Vergangenheit verklärt wurde, zu musealen Ehren gelangte und nun endgültig vorbeizuziehen schien. Dieses vielbeschworene Neue wollte jedoch so glorreich einfach nicht am Horizont auftauchen. Und ihre Gedanken entglitten langsam, und das helle Rot einer fernen Leuchtschrift berührte ihre Augen.

„Die große Mutter steht hier und wacht“, sagte eine sanfte Stimme neben ihr.

Wanda blickte sich neugierig um, die Stimme gehörte einem kleinen, älteren Mann. Fast ein alter Mann auf diesem Schiff. Weißgekleidet und mit brauner, faltiger Haut und grauen Haaren stand er da. Wanda war ihm vor ein paar Wochen schon einmal in einem Club begegnet. Er hatte große schwarze Augen. Wie sehr musste er wohl seiner Jugend nachtrauern, dass er sich an solchen Orten rumtrieb. Was will er hier?, fragte sich Wanda. Frauen anmachen, Drogen verkaufen? Beim letzten Mal hatte er sich als Arzt ausgegeben. Ein Arzt indischer Herkunft. Sie glaubte ihm. Sie wusste um ihre Leichtgläubigkeit, aber er sah so aus, wie sie sich einen indischen Arzt vorstellte.

„Da steht sie mit ihren dicken Schenkeln und wacht. Wie die Hüterin des Flusses“, sagte der indische Arzt. Und er kam näher, berührte Wandas nackten, jungen Arm und fragte verschwörerisch: „Siehst du sie?“ Wanda roch seinen Atem, der interessant und ekelerregend zugleich nach fremden Gewürzen roch.

„Ja.“ antwortete sie und sah nichts als einen Brückenpfeiler im dunklen Wasser. Der Mann war ihr schon ein paar Meilen voraus, indem was er sah oder nicht sah. Wanda hätte gerne eine Hüterin mit dicken Schenkeln erblickt.

„Da steht sie und lässt alles an sich vorbeitreiben. Unermüdlich. Und schön. Und ihre großen Brüste..hm....ihre Arme. Kannst du sie sehen?“ Und er zeigte hinaus.

„Ja.“ sagte Wanda. „Da hinten. Ich sehe.“

„Wirklich?“

„Ja. Klar.“ Er schien darüber erfreut und erzählte Dinge über die Wächterin mit den gigantischen Ausmaßen, und Wanda lauschte mit zunehmender Abscheu seinen verbalen Ergüssen und wünschte, es wäre so magisch, wie er ihr glauben machen wollte. Dann bemerkte sie die sanfte Wärme, die ihren Körper in einer großen Welle überschwappte und sich mit dem Blut in ihrem Kopf mischte. Die Musik schlug lauter an ihr Trommelfell und klopfte mit schnellen Herzschlägen an. Kleine Kaskaden zündeten unter ihrer Haut und die bunten Lichter im Raum drangen verführerisch in ihre Augen und umfingen sie strahlend: Es ging ihr ausgezeichnet!

Nervöse Lust, wilde Entschlossenheit, sich um jeden Preis zu amüsieren…

Sie sah dem Mann ins Gesicht. Vielleicht war er ja wirklich ein indischer Arzt. Vielleicht auch nicht. Sie mochte nicht mehr über ihn nachdenken, und sie wollte auch nicht mit ihm reden: Er war alt. Und er wirkte lächerlich. Wanda fühlte sich plötzlich falsch in seiner Gegenwart.

„Bis später“, sagte sie und ließ den alten Mann stehen.

Alles hatte sich verändert. Jetzt war es sehr heiß unter Deck, und der Nebel, der in regelmäßigen Abständen von einer unsichtbaren Maschine ausgespuckt wurde, verwandelte dieses gewöhnliche Partyschiff mit der biederen Kellerbaratmosphäre in ein phantastisches Zauberreich, in welchem sich die buntesten Lichter mit den schönsten Silhouetten vermischten. Es war sehr voll hier, und die vielen Tanzenden bewegten sich eng aneinander auf wenig Raum; ein dunkles Stampfen, der Rhythmus der Musik regierte als mystischer Alleinherrscher und ließ die Tänzer wie Marionetten an unsichtbaren Fäden langsam fallen und aufsteigen. Zu dieser Zeit waren noch alle aufgekratzt und erfüllt von nervöser Lust, mit der wilden Entschlossenheit, sich um jeden Preis zu amüsieren. Manchmal wurde mit erhobenen Armen in Richtung des DJ gejohlt. Der war in einer Ecke hinter seinem Pult mit allen Insignien der Macht ausgezeichnet und halb verschluckt vom blauen Nebel. Eine graue Eminenz mit Kopfhörern. Die hübsche Wanda in ihrem goldfarbenen Kleid drängte es in die warme Enge der Tänzer, sie schob sich herzklopfend in den unwiderstehlichen Rhythmus der Musik und musterte mit halbgeschlossenen Augen die Tanzenden um sie herum. Alles war in Bewegung jetzt, fremde nackte Haut und Schweiß streiften in leuchtende Farben getaucht ihren tanzenden Körper. Ein Mann in einem roten Hemd erschien durch den gelblichen Nebel und tanzte lächelnd mit provozierendem Blick näher. Sie fand ihn anziehend, seine Bewegungen galten ihr. Er umkreiste sie und Wanda tanzte, drehte sich, ließ sich erst zögernd auf ihn ein, sah ihn an, lachte, sah wieder weg, dann mehr, bis sie sich berührten. Alles war vergessen. Es gab nur noch die Musik, die durch ihren Kopf raste, und den Mann in dem roten Hemd und seine Berührungen ihrer Haut: Sie war in der Nacht angekommen.

Wanda hatte Gregor, der sie dicht am Rande der Tänzer lange beobachtete, der rauchte und wartete, nicht gesehen. Der einmal auf die Tanzfläche drängte und neben ihnen tanzte. Irgendwann hatte sie ihn bemerkt, sah ihn mit halbgeschlossenen Augen an durch diese dumpfen Schläge der Musik, die in ihre Körper drang, tanzte zwischen beiden Männern, berührte beide abwechselnd mit ihrem Körper, ihren Haaren und lachte. Ein Spiel. Dann lachte sie nicht mehr, sah nur noch den Mann im roten Hemd und fühlte seine Hände auf ihre Haut, roch seinen verschwitzten Körper. Gregor war nicht mehr da.

Später, als ihr schwindlig war und sie Durst hatte, verließ sie den engen Kreis der Tänzer und den Mann im roten Hemd, der sie zurückhalten wollte, und bahnte sich wie durch eine Welt aus Watte vorsichtig ihren Weg nach draußen. Hier trank sie, legte die zweite Hälfte der Pille nach, und im Spiegel der hellerleuchteten Damentoilette sah sie lange in ihr verändertes Gesicht, aus dem ihre Augen fast schwarz entgegen starrten. Sie kramte nach ihrem Lippenstift, malte sich den Mund hellrot an, ihre Bewegungen waren langsam. Herausgerissen aus dem unglaublichen Taumel, der sich den Gang herunter im bunten Nebel abspielte, wurden ihre Lider schwer. Sie wusste, sie hatte jetzt das, was Gregor ihren Schlafzimmerblick nannte. Ihren Unterwegsseinblick. Wanda fing an, ihn zu vermissen. „Wo ist er?“, dachte sie. Sie konnte ihn nicht finden. So taumelte sie durch die schmalen Gänge, vorbei an all den Gestalten, an Paaren, sie sich aneinander rieben, an Paaren, die sich Szenen machten, an lachenden, absurden Figuren und an solchen, die in ihrem Film einsam vor sich hintanzten. Sie sah Mirko, sah seine Freundin, die ständig mit neuen Leuten redeten, ihre flüchtigen Bekanntschaften wie neue gute Freunde vorstellten. Sie fand das anstrengend, nickte nur kurz, als sie jemanden hallo sagen sollte, und fragte nach Gregor, doch keiner wusste, wo er war. Sie ging an die dicht umdrängte Bar, er war nicht da. Sie ging quer über die Tanzfläche, er war nicht bei den Tänzern, die nun wie in einer schweren, feuchten Masse ihre Leiber halb autistisch, halb geil, eng miteinander verwoben und im harten Gleichmaß der Percussions narzistisch anpriesen. Der Mann im roten Hemd war hier und zog grinsend an ihrem Arm, sie machte sich von ihm frei. Was fand sie an ihm? Er war ein Fremder.

…er hätte sie genauso gut schlagen können, statt zu lächeln…

Die steilen Treppen hinauf auf das Deck waren schwierig jetzt, und oben wehte ein kalter Wind, der ihr erhitztes Gesicht traf. Halbnackt und verschwitzt lief sie alleine hin und her. Eine kleine Angst stieg in ihr auf. Wieder unten sah sie im grellen Neonlicht der Treppe, dass auf dem Herrenklo die Spiegel abmontiert auf den Waschbecken lagen. Mehrere Gestalten beugten sich über das Glas und sogen ein, was sich in feinen, weißen Linien vor ihnen ausbreitete. Wanda blieb stehen und sah gierig zu. Ein Mann nahm ihre Hand und zog sie rein. „He…Ein Engel….Wie heißt du?“ fragte er und ließ ihre Hand nicht los. Sie sagte ihren Namen und folgte der Einladung auf dem Spiegel. Der Fremde legte seinen Arm um sie und flüsterte ihr Komplimente zu. Sie hörte das leise Lachen einer Frau, dann ging eine Tür auf, und während ein wacher, heller Schauer sie durchfuhr, sah sie Gregor mit einer fremden, blonden Frau aus einer der Toilettenkabinen kommen, sie hielten sich eng umschlungen und die Frau zog ihr verrutschtes kurzes Kleid glatt. Wanda sah ihn an, ihre Blicke trafen sich. Er lächelte ihr zu, unverschämt lange, aber er ließ die andere Frau nicht los und ging mit ihr nach draußen, ohne ein Wort. Er hätte sie genauso gut schlagen können, statt zu lächeln. Es fühlte sich gleich an. Eine Weile stand Wanda starr im hellen Licht, sie fühlte ihr Herz rasend schnell klopfen, und der Mann, der sie zum Koksen eingeladen hatte, war plötzlich so nahe, fummelte an ihr rum, dass ihr schlecht wurde. „Ich will nicht“ sagte sie grob, machte sich los und lief in den Tanzraum, ohne zu wissen, was sie tun sollte. Sie weigerte sich zu begreifen, was sie gesehen hatte. Aber das Bild ihres Freundes mit der fremden Frau und sein unerträglicher Blick breiteten sich langsam in ihr aus wie ein Gift. Nichts stimmte mehr.

Ein Misston, der gänzlich fremd war

Und dann gab es plötzlich durch die Musik hindurch ein Kratzen, ein dumpfes Vorbeigleiten, ein Geräusch, das nicht hierhin gehörte. Ein Misston, der gänzlich fremd und abstoßend daherkam und Angst machte. Wanda wurde der Boden unter den Füßen weggerissen, sie schwankte. Ein Mensch rammte sich von hinten in ihren Rücken, sie fiel hin und riss im Fall jemanden, nachdem sie gegriffen hatte mit zu Boden. Die Musik zerbrach, Schreie erklangen, es wurde erst dunkel, dann sehr hell, und die Nachtschwärmer standen im unfreundlichen grellen Deckenlicht, während der Nebel grauweiß in die Ecken flüchtete und dort kleben blieb. Ein unsicheres Gemurmel erhob sich in dem entzauberten Raum und jemand sagte, das Schiff hätte etwas gerammt. Wanda stand auf, ihr Rücken tat weh, das goldene Kleid war an einer Stelle zerrissen. Doch sie war nicht die Einzige, die hingefallen war. Gläser lagen zertrümmert auf dem Boden, ein Tisch war umgekippt und einige der Barhocker. Eine Frau hatte sich an einer Scherbe verletzt und blutete leicht. Viele standen verloren in der Gegend herum, abrupt herausgerissen aus ihrem herrlichen Flug.

„Dieses Arschloch ist nicht bei mir“, dachte Wanda, erschreckt durch ein verzweifeltes Gefühl, der Gedanke schraubte sich stumpf in ihr fest. Gregor kam auch nicht, und so folgte sie langsam den Anderen, schob sich mit ihnen die schmalen Treppen nach oben an Deck.

Das Partyschiff war mit einem Brückenpfeiler kollabiert und schaukelte jetzt im schwarzen Wasser unbeholfen und schwerfällig herum, wie ein großes Tier mit seltsamen Gästen auf seinem Rücken. Jemand sagte, der Kapitän wäre nicht mehr nüchtern gewesen. Erst war es sehr still, doch dann kehrten die Unterhaltungen und Gelächter zaghaft zurück, ein Kratzen sägte jedoch weiter unangenehm in den Ohren der Gäste. Wanda fror. Sie sah Mirko mit seiner Freundin im Arm auf sich zukommen, er brüllte gutgelaunt und völlig dicht: „Titanic! Wo sind die Rettungsboote?“ und lachte. Hinter ihm war Gregor, verschwitzt und blass. Er war alleine, ohne die blonde Frau aus der Toilette, und er wagte es kaum, Wanda anzusehen.

„Ich will meine Jacke und meine Tasche“, forderte Wanda ihn mit eisigem Blick auf.

„Wieso?“ fragte Gregor.

„Mir ist kalt und vielleicht gehen wir alle unter“.

„Schwachsinn“, antwortete er genervt. „Wir gehen nicht unter.“

„Dann will ich meine Sonnenbrille.“

„Wozu brauchst du deine Sonnenbrille?“

„Dazu!“ Mit jedem ihrer sinnlosen Worte, hätte Wanda ihn ohrfeigen können.

„Und wo ist die?“

„Unten. In meiner Tasche.“

Er gab nach, und sie erklärte ihm, wo ihre Sachen lagen. „Ich komme nicht mit“, sagte sie laut. „Nachher ist unten schon Wasser, und ich will, dass du alleine absäufst!“ So hatte sie noch nie zu ihm gesprochen. Und Gregor sah sie mit einem Blick an, den Wanda noch nie an ihm bemerkt hatte. Dann ging er schweigend weg, um ihre Sachen zu holen.

Niemand erklärte etwas, alle standen nutzlos herum. Zigaretten wurden angezündet, die meisten Gäste setzten sich auf die Holzbänke und warteten darauf, dass die Party weiterging. Doch der Schiffsmotor gab keinen Laut von sich, und sie schaukelten gefährlich nahe um den riesigen Brückenpfeiler. Wanda ergab sich erschöpft dieser beständigen Bewegung und spürte eine kalte Traurigkeit. Sie sah in die blaue Nacht, der ganze Himmel hatte sich für sie verändert. Sie starrte ins Wasser und erinnerte sich an den ersten gemeinsamen Urlaub im vergangenen Jahr, den sie zusammen mit Gregor verbracht hatte. Sie erinnerte sich an dunkelgrüne, tanzende Schlingpflanzen in einem schwedischen Fluss, die sanft hin und her schwingend, ständig in Bewegung, keine Eile hatten, anzukommen. Sie waren dort geschwommen. Das war das Glück gewesen.

Irgendwann erklang Motorengeräusch, und das kleine Schiff fuhr langsam flussabwärts bis zur Anlegestelle. Das Boot sei nicht mehr sicher, hatte der Gastgeber erklärt. Die Party war zu Ende. Alle zeigten sich ungläubig, unwillig, so einfach die Party aufzugeben, doch auch der DJ packte seine Sachen zusammen: Hier würde es keine Musik mehr geben.

Die verwirrten Gäste ließen sich endlich wie eine Herde aufgeputschter, blökender Schafe von Bord treiben. Oben an der Mole standen Wanda und Gregor inmitten der ausgeladenen Gäste, fröstelnd und unschlüssig im Schatten der Nacht und versuchten, sich nicht anzusehen.

Silke Vogten

Fotos: Flora Jörgens aus dem Buch "Salsa - The Rhythm And Movement Of The Carribean, ear-BOOK-Verlag, ISBN 978-3-940004-10-9, www.earbooks.net

 

Das meinen die Leser

 

„Wollte auch noch zur letzten escapade gratulieren, die hat mir echt gut gefallen und find euer Themen-hopping auch gelungen – ist mal was dabei, was einen nicht unbedingt anspringt, weil es die persönlichen Vorlieben nicht so trifft, aber immer wieder auch was richtig feines. Die Gedichte von Silke in einer anderen der letzten VÖ´s fand ich auch sehr ansprechend, dabei bin ich eigentlich kein Freund dieser Form der Literatur.“ Bernharde H.

„Wow! Hab jetzt reingeblickt in die letzte und vorletzte E-Ausgabe. Das hat immer wieder neue Aspekte und etwas ganz Musisches!!! Und so in sich stimmig, jede Ausgabe. Und die Fotos von der vorletzten Ausgabe!...“ Sabine F.

Außerdem:

 

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