Editorial

 

Liebe Freunde, Kollegen, Medienpartner,

der November schreitet heran. Eventuell bald düster, kalt und dunkel. Kein Grund, Trübsal zu blasen, finden wir. Aber quietschebunt Halloween muss auch nicht sein. Der 31.10. wurde früher in Deutschland Reformationstag genannt, was anscheinend in Vergessenheit gerät.

Feiern wir Allerheiligen am 1. November und Allerseelen am 2. November dieses Jahr einfach mal mexikanisch: Dia de los Muertos. Allerheiligen heißt in Mexiko übrigens ziemlich genau übersetzt Dia de Todos los Santos. Aber die Party für die Heiligen ohne eigenen Namenstag geht im Trubel der dreitägigen bunten Feierlichkeiten im Gedenken an die Toten beinahe unter.

Die Fotos von Michael Dressel halten in dieser Ausgabe dazu kritische Distanz. Der deutsche Fotograf lebt eben etwas nördlicher, nämlich in Los Angeles. Nur der Name der Engel-Stadt ist quasi mexikanisch.
Stefan Wimmer lässt uns in seiner Erzählung „Heaven“, die wir auszugsweise vorstellen, einen Blick in den Himmel von Veracruz werfen. Landen wir mit Marcus Verhülsdonk in der Hölle? Wer weiß, wohin uns der Tod verbannt. Jedenfalls können wir Marcus auf die Sprünge helfen: Totensonntag ist dieses Jahr am 22. November. Und da wird ganz protestantisch korrekt keinerlei Party gefeiert.
In Mexiko auch nicht. Da ist dieser Gedenktag unbekannt.

Nehmen wir uns also den Buß- und Bettag frei (18. November). Ach, nein. Da bleibt man nur in Sachsen im Bett. Die anderen nehmen den Bus zur Arbeit. Wir auch.

Eure,
Flora Jörgens und Silke Vogten

Foto: Dead Can Dance. Von Michael Dressel

Dia de los Muertos

komme, was da wolle

wiewohl ich zuzugeben mich genötigt sehe,
daß ich ein schmutziger alter mann bin,
der sich auch expliziten vor- und darstellungen durchaus nicht per se verweigert,
zeigt mein gehirn dennoch ganz und gar unbrauchbare treffer zu gewissen suchbegriffen:
so könnte ich weder sagen,
wie ich mir einen kommenden samstag präzise vorzustellen hätte,
noch eine kommende woche.
ganz zu schweigen von kommenden weihnachten,
oder, gott bewahre,
einem kommenden totensonntag!

Marcus Verhülsdonk

Foto: Rick. Von Michael Dressel

Dia de los Muertos

Heaven

David Byrne hatte einmal eine Bar namens Heaven besungen. Heaven war keine normale Bar, seine Hausband spielte 24 Stunden lang dasselbe Lied, zu dem die Gäste – es waren stets dieselben – denselben Tanz tanzten und denselben Kuss küßten. In Heaven herrschte die höchstmögliche Nähe zur Unsterblichkeit.

Die Sonne verstrahlte um sieben Uhr abends wie eine Supernova hinter der Kathedrale. Die Vögel stürzten kreischend in die Jaraca-Bäume, um Balzpartnerinnen zu finden. Wir saßen wieder im Rex, einer Bar unter den Portalbögen. Über uns drehte sich die Reihe der Ventilatoren, und durch das Vogelgekreisch hallte die beruhigende Stimme des Ansagers der Stadtverwaltung aus den Boxen:
»So ruhig ist auch heute wieder die Nacht in unserem geliebten karibischen Veracruz! So schön ist es, dass wir hier alle gemütlich beieinander sitzen! Wir werden alles Menschenmögliche tun, um Ihnen sämtliche Wünsche zu erfüllen!«
»Das tägliche Intro!«, seufzte der kubanische Kapitän. »Irgendwie klingt es, als ob ein Anstaltsleiter seinen Patienten versichert, dass die Entlassung nahe sei.«
»Ja«, sagte ich und stützte den Kopf in die Hände, »die Stadt ist wie ein Irrenhaus mit Fenster zum Meer...«Die Parolen des Ansagers waren gerade verhallt, da kamen die Straßenmusikanten und kesselten uns mit ihren Instrumenten ein. Bald würden sie unsere Köpfe weichgekocht haben, bald waren wir reif für die Apokalypse, die hier jeden Abend heraufzog.
Seit Wochen saß ich in diesem Ort namens Veracruz fest. Ursprünglich hatte mir der BR den Auftrag gegeben, Live-Mitschnitte der veracruzanischen Volksmusik aufzunehmen. Die ersten Male hatte ich ins Rex noch meine Aufnahmegeräte mitgenommen, doch bald gab ich es auf. Alle mexikanischen Batterietypen waren von der Temperatur so ausgelaugt, dass sich die Musikaufnahmen nach einem Ensemble von Punkmusikern auf Valium anhörten, und der Raritätswert der Live-Darbietungen erwies sich auch als sehr eingeschränkt, denn es gab kein einziges Lied, das nicht am folgenden Tag in gleicher Form wiederholt wurde.
»Wollen Sie ein bestimmtes Stück hören?«, fragte der Marimbaspieler. »Veracruz vielleicht?« Der Kapitän nickte schwach. Veracruz war die Titelmelodie der täglichen Aufführung. Sie wurde am Abend bis zu hundertmal gespielt. Durch die Tischreihen arbeiteten sich die Nuss- und Souvenirverkäuferinnen zu uns vor.
»Wollen Sie Erdnüsse? Wollen Sie Souvenire?«, gurrten sie und pressten uns ihr tragbares Sortiment mitsamt ihren Brüsten ins Gesicht. Wir nahmen große Schlucke aus den Gläsern, um unsere Gehörgänge zu betäuben. Mario, der Chefober im Rex, lehnte trotzig an der Wand, die Arme vor seinem Bullenkörper gekreuzt. Marios Augen hatten immer diesen Schleier, den Göring besessen hatte, bis ihn die Alliierten mit seinem Koffer voll Morphiumreserven verhafteten. Ich und der Kapitän konnten uns wegen der Untergangsmusik nur noch schreiend mit Mario verständigen.
»Mario, zwei Reposados!«, schrie der kubanische Kapitän.
»Mario, zwei Bulls!«, schrie ich.
»Mario, zwei Fundadores!«, schrien wir zusammen.
Mario lachte und wedelte mit seinem Mob in unsere Richtung, als wolle er Fliegen verscheuchen.
Jede Nacht um Mitternacht begann in Veracruz der Cancan der leichten Mädchen. Die meisten Prostituierten stammten aus dem heruntergewirtschafteten und mückenverseuchten Süden. Wie die ewig kaugummikauende Jamilet, deren Lache so grell und schmutzig wie die Glühbirne am Klo des Rex war. Oder die Halbinderin Julieta, eine gutmütige Dicke, die immer wieder von den »ernsten Absichten«
ihrer deutschen Frachtkapitäne redete. Oder Violeta, die ihr Outfit jeden Tag änderte. Manchmal paradierte sie dick geschminkt im Madame-Pompadour-Stil über den Platz, manchmal hatte sie Schulmädchenuniformen oder Cowgirlkleider samt Stetson an. Als Prostituierte vereinigte sie einfach mehrere Themenparks in sich.
Nach Mitternacht ließen die Prostituierten an jeder Ecke der Stadt ihren braungebrannten, verschwitzten Pubertätsspeck und ihre Satin-Hotpants wie Köder glänzen. Manche von den Mädchen waren schön wie verschollene Jugendlieben. Andere lehnten an der Wand wie schreckliche Sarkophage. An unserem Tisch türmten sich mittlerweile die Flaschen.
»Wollen Sie noch Erdnüsse?«, gackerten die Verkäuferinnen.
»Ja, zur Hölle«, schrieen unsere Hirne. »Wir wollen! Wir wollen Erdnüsse, Biere, Bulls und alles übrige auch!«

Stefan Wimmer, Auszug aus „Das große Bilderbuch der Vulkanvaginas“, 2015, Blond-Verlag, www.blond-verlag.de

Foto: Dead Can Dance 2. Von Michael Dressel

Dia de los Muertos

magie

magie ist, wenn
die achtlos aus dem autofenster geworfene,
mit pommesbudenabfällen gefüllte
dünne bleiche plastiktüte
mit den verknoteten henkeln,
die hinter der kurve einer autobahnabfahrt
mitten auf der fahrbahn im lichtkegel kauert,
den reflexhaft reagierenden familienvater ......
als letztes, während sein wagen die leitplanke erklimmt
und bevor ein baum
mensch und maschine auf ewig vereint, denken läßt:

zum glück ist dem weißen kaninchen nichts passiert!
womöglich schwarze.

Marcus Verhülsdonk

Foto: Enlight Hero. Von Michael Dressel

Marcus Verhülsdonk, der Shooting-Star bei unserer Lesung am 27.9. in Wuppertal, Jahrgang 1966, geboren in Oberhausen, kann Schlagzeug. Mundharmonika, Keyboards spielen und singen. Wurde aber beim „Großen Zerstörer“, eine Art Punk-Kabarett als Trompeter gebucht, weil man das Instrument nicht zu sehr beherrschen sollte. Das ist aber schon länger her, heute ist Marcus hauptberuflich Veranstaltungstechniker.

Stefan Wimmer, Autor aus München, hat sein drittes Buch veröffentlicht. „Das große Bilderbuch der Vulkanvaginas“ enthält Kurzgeschichten (Blond Verlag). Was das genau ist, hat uns der Autor auch noch gezeichnet (s.u.).

Michael Dressel, Sounddesigner der letzten 14 Clint-Eastwood-Filme, lebt in L.A. Neue Fotos stellt er regelmäßig auf seiner facebook-Seite aus, die Huffington-Post hat unlängst ein langes Interview mit ihm gemacht, das Escapade auf facebook verlinkt hat. Denn: Escapade belles-lettres gibt es seit kurzem auch auf facebook. Dort werden wir in Zukunft immer unsere aktuellen Termine und Neuigkeiten posten, Ihr könnt uns da abonnieren.

Zeichnung: Vulkan. Gesprüht. Von Stefan Wimmer.