Editorial

 

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

unsere Party zur Print-Version von Escapade belles-lettres fand gestern statt, und noch berauscht von diesem Abend würden wir am liebsten den Tag im Bett verbringen mit einem guten Buch. Das wäre eine schöne Nachbereitung, wobei einem das Wetter egal sein kann.

Eine Sommer-Lese gibt es in dieser Ausgabe: renommierte Autoren empfehlen Euch Bücher.

Wir Escapadistinnen bieten an dieser Stelle etwas ganz Neues. Wenig amüsiert von der Praxis, dass allerorten Journalisten-Autoren ihre Autoren-Journalisten-Freunde rezensieren, haben wir unsere Autoren (Journalisten, Freunde) gebeten, ihre Werke doch gleich selbst zu rezensieren.

Wir ernteten erst einmal Ablehnung. Jedenfalls von einer Kollegin. Aber nicht, weil sie unser Ansinnen empörte, sondern weil sie ihr Buch gar nicht so toll findet (!)

Friedrich Schiller war ja mit seiner Selbstkritik so weit gegangen, dass er unter Pseudonym einen Verriss über „Die Räuber“ schrieb - was hier von Gregor Weber, Christian Bartel und Achim Wigand steht, finden wir sogar noch besser! Außerdem Fotos von Gerd Neuhaus, Empfehlungen von Carola Wegerle, Iris Hanika und Gunda Wienke. Lest selbst und genießt.

Eure,
Flora Jörgens und Silke Vogten

Foto: Melina liest von Flora Jörgens

Sommerlese

Krimi

Eigentlich hört sich das ja furchtbar an… Ich, ein Schauspieler, ein sogenannter Taddordgommissar – als ob das eine Berufsbezeichnung wäre – habe einen, Achtung: Krimi geschrieben, Titel: „Feindberührung“, es geht um seelisch zerstörte Afghanistanheimkehrer und eine Rockerbande. Piffpaff.
Zugegeben, Autobiographie wäre vorneweg peinlicher gewesen, ich bin ja erst 42 und der Meinung, dass ich noch nicht allzu viel Berichtenswertes erlebt habe. Was ich im Übrigen ganz in Ordnung finde, denn ein berichtenswertes Leben zu führen, ist ganz schön anstrengend.
Bei einer Lesung bin ich sogar schon gefragt worden, ob ich „als Taddordgommissar“, nicht Angst gehabt hätte, einen Krimi zu schreiben. Die richtige Antwort wäre gewesen: Taddordgommissar hat vor nie nix Angst, weil: ähnlich supermännlicher Beruf wie Geheimagent. Tatsächlich geantwortet habe ich aber, dass ich immer Respekt vorm Schreiben habe, mache ich ja schließlich noch nicht so lange und außerdem hat der Beruf des Schriftstellers oder Autors neben einer unendlich langen Reihe von Vorzügen auch einen gewichtigen Nachteil gegenüber der Tätigkeit als Taddordgommissar: Wenn’s Ergebnis nix is, bin ich, der Autor, selber schuld und kann nicht mit dem dicken beleidigte-Leberwurst-Finger des Taddorgommissars auf Drehbuchautor oder Redaktion oder Regie oder alle auf einmal zeigen.
Also warte ich, wie alle Autoren, auch wenn Sie es nicht zugeben, auf Rezensionen, damit ich weiß, ob mein Buch gut ist oder eher nicht so. Auch auf Amazon, der wichtigsten Rangliste für alle, die es nicht auf die vom Spiegel schaffen, gucke ich regelmäßig nach. Zwei Rezensionen hab ich dort schon (mit Datum heute…) und sie sind begeistert. Ich gebe zu Protokoll, dass es sich bei den Rezensenten meines Wissens nach nicht um Freunde oder Bekannte handelt.
Die Steigerung von der durch jemanden aus dem sozialen Umfeld des Autors verfassten Kritik ist übrigens die Besprechung des Buches durch den Autor selbst. Und genau so etwas lesen Sie gerade. Wobei ich denke, der Umstand, dass mein richtiger Name darunter steht, mindert die Eigenartigkeit etwas. Trotzdem komme ich mir vor, als würde ich gerade unter irgendeinem möglichst abseitigen Nickname einen Wikipediaeintrag über mich selbst schreiben. Sehr peinlich. Denn Wikipedia gilt natürlich nur, wenn jemand schreibt, den man nicht persönlich kennt, ist ja klar.

Ich habe während des Schreibens übrigens immer mal wieder hektisch gesucht, ob ich nicht doch noch eine „richtige“ Rezension aus dem Netz fischen kann, zum zitieren, und heute ist es tatsächlich gelungen! Es ist sogar eine erstens nicht unfreundliche und zweitens eine besonders offizielle: Thomas Wörtche, dessen Meinung einem als Krimiautor nicht wurscht sein kann, findet mein Buch einerseits sehr gelungen, weil echter Krimi (kein Grimmi, wie er aus seiner Sicht Verachtenswertes nennt) und attestiert mir, realistische Polizeiarbeit spannend schildern zu können – was mich sehr freut, weil ich mit ein paar Polizisten befreundet bin und sie ungern enttäuschen möchte. Er nennt das Buch „einen Kriminalroman im besten Sinne“, „konzeptionell bestens erdacht“ und „meilenweit vom üblichen Grimmigedödel der witzischen und belanglosen Sorte entfernt“. Das ist ganz toll, ehrlich. Danke, lieber Thomas Wörtche.
Aber: obwohl Wörtche es grundsätzlich ganz gut findet, dass mein Hauptkommissar Kurt Grewe kein saufender, sozial defizitärer Einzelgänger mit genialen Eingebungen, sondern ein glücklich verheirateter Beamter und Familienvater ist, der sich seinen Kollegen gegenüber normal höflich verhält, bemängelt er, dass ich eben dieses zu redundant und bräsig beschreibe,– vor allem, zu oft. Und überhaupt könnte, dürfte, sollte ich böser schreiben, weniger glatt, einfach mit mehr schriftstellerischer Risikobereitschaft, sprich Cojones, denn – das immerhin – er hält mich für „vielversprechend“ und zu den von ihm gewünschten Verbesserungen fähig. Ich mag den ganzen Aber-Teil naturgemäß nicht so sehr wie den Immerhin-Teil, muss aber zugeben, dass er klug geschrieben ist und ich überhaupt Vehemenz grundsätzlich extrem befürworte und der Wörtche, der ja eine Menge von Literatur und insbesondere Krimis versteht, vielleicht ein bisschen Recht hat, wer weiß? Aber da muss sich der Leser seine Meinung bilden. Und wenn er zu einer solchen gekommen ist, dann bloß her damit! Ich will nämlich noch mehr Krimis schreiben und die sollen alle gut werden, oder besser oder mächtig gewaltig und nicht nur solchen Freizeitlesern wie mir, sondern auch dem Wörtche richtig gut gefallen. Und dann muss ich meine Rezensionen hoffentlich nicht mehr selber schreiben.

Gregor Weber

Gregor Weber („Feindberührung“, Knaus-Verlag) ist nicht nur Schauspieler und Koch, sondern beweist auch hier, wie gut er mit Worten umgehen kann. Sein Krimi ist mindestens genauso ungewöhnlich wie gut geschrieben und Kommissar Grewe fühlt sich – wie alles in dem Buch – einfach echt an. (Aber WIR wollen hier ja nicht rezensieren)

 

Sommerlese

Reise

Gute Nachricht: wir schreiben das Jahr 2022 und die Menschheit existiert noch, nicht einmal Europa ist unter der gewaltigen Papiermenge von inflatorisch gedruckten Drachmen-Banknoten verschwunden, die eine verzweifelte Regierung nach dem Ausscheiden des Landes aus dem europäischen Währungsverband 2013 hat drucken lassen. Schlechte Nachricht: Die BILD-Zeitung gibt es immer noch und nachdem die Gigantofantastilliarden-Geldscheingebirge vor dem Hellespont nun schon lange nicht mehr schlagzeilenträchtig sind und nicht jeden Tag ein Pädophiler aus dem Kindergartengebüsch zur Sterilisation ausgeschrieben werden kann, hat sich im Frühwinter ein investigatives Team von Europas immer noch Größter aufgemacht, um die dunklen Geheimnisse umkränzter Laureaten auszugraben. Frisch aus der Zukunft: Der BILD-Aufmacher vom 10. Dezember 2022:
Nobel-Schock! Stockholm ehrt Autor mit finsterer Vergangenheit!
Wenn heute Abend Königin Victoria mit leuchtenden nordischen Pausbäckchen die diesjährigen Nobelpreise in einer feierlichen Zeremonie übergibt, weiß die mollige Schönheit dann, wen sie dort auszeichnet? Unter Preisträgern befindet sich auch der deutschstämmige Wignald Amin (wir berichteten: Deutscher wird Bücher-Kaiser!). Was kaum einer weiß: der im undeutschen Ausland lebende Wignald hat ein dunkles Geheimnis. Bevor er mit seinen kaum lesbaren Romanen ( u.a. der Generationenroman „Miststück. Eine Vorführung“) und seinen unspielbaren Theaterstücken (z.B. „Vorführung. Ein Miststück“) bei einer radikalen Minderheit von linken Literaturkritikern zu zweifelhaftem Ruhm kam, schrieb er am unteren Ende des Buchgewerbes! Unter seinem bürgerlichen Namen – der sich so revolutionär gebärdende Wignald stammt aus einer uralten deutschen Zuckerdynastie – Achim Wigand erschienen ab 2006 einige Reiseführer. BILD hat sie vom Staub der unverkäuflichen Remittenden befreit und einmal darin geblättert – und einen Sensationsfund gemacht! Preis-Wut! Er machte München nieder!
Einige schockierende Zitate aus seinem 2008 erschienenen Buch „München“, in Wahrheit eine Hetzschrift über die schönste deutsche Stadt: „…politreaktionäre Bierdimpflstadt…“ reiht sich hier an „…eine der überschätztesten Veranstaltungen der Welt…“ (über das tolle Glockenspiel!) und „…trostlose Grünanlagen neben verkehrsinfarktgefährdeten Straßen…“. Woher nur all dieser Hass auf die gemütliche Metropole, die ihm doch immerhin über ein Jahrzehnt eine Heimat bot? Aber ein paar Seiten weiter wird klar, woher der Wind weht: ein ganzer Rundgang befasst sich mit dem angeblich ach so „Braunen München“ – ein altlinker Reflex, den Deutschen ewige Schuld einzureden. Nur gut, dass die letzte deutsche Kanzlerin aus dem bürgerlichen Lager schon vor 10 Jahren dieser Netzbeschmutzung ein Ende gemacht hat, und in der Folge dieses üble Machwerk vom Markt genommen werden musste. Auch die „Tipps“ für die Abendgestaltung sprechen eine deutliche Sprache: Seitenlang werden hier ein zwielichtiges Kaschemmen-Gomorrha unter der Rubrik „Gay & Lesbian“ beschrieben. Gemütliche Gasthäuser, in denen Touristen mit den Einheimischen deutsches Liedgut anstimmen können, sucht man beinahe vergeblich.
Skandal-Autor beleidigt Ausland!
Noch schlimmer wird das alles, nimmt man sich sein schon 2006 auf den Markt gedrücktes Machwerk „Montenegro“ vor. Hier wird beleidigt und geflucht und unverhohlen zu Gesetzesbrüchen aufgerufen, dass dem Auswärtigen Amt ganz angst und bang geworden sein muss. Gesetzliche Vorgaben werden zu „…lästigen Formalien…“ herunter geschrieben, die es „…zu vernachlässigen gilt…“, Reisende aus anderen Ländern unverhohlen zu „…trägem Grillfleisch an den Stränden…“ herab gewürdigt und sogar der montenegrinischen Regierung, dem Sturmgeschütz gegen Korruption und Unrecht auf dem Balkan wird nur ungenügend getarnt Bestechlichkeit und Bereicherung vorgeworfen! Weiß das kleine Land an der Adria, welche Natter sie da am Busen nährt? Wignald Amin lebt nämlich nach den umfangreichen Recherchen von BILD seit einigen Jahren konspirativ zurück gezogen auf einem kleinen Boot in einem Hafen des Balkanstaats.
Stoppt den Irrsinn in Schweden!
Mit den Resultaten unserer investigativen Untersuchung konfrontiert, wollte sich ein Sprecher der Nobelstiftung nicht äußern, auch das königliche Hofmarschallamt hüllte sich in königliches Schweigen. Unter der Hand konnten wir aber erfahren, dass die schwedische Königin eine Alkoholvergiftung vortäuschen könnte, um der peinlichen Begegnung mit einem radikalen Gesinnungsschreiber aus dem Weg zu gehen. Milliarden von BILD-Lesern aber fordern: Stoppt die Nobel-Schande und hoffen darauf, dass heute Abend in der Gluthitze von Doha (siehe Sport: Lothars Freundin Sonnenbrand im Dekolleté! Plastik geschmolzen?) unsere Jungs im WM-Halbfinale der Welt ein würdigeres Deutschland zeigen werden.

Achim Wigand

Achim Wigand hat zugesichert, bis zum Nobel-Preis für uns zur Verfügung zu stehen. Außerdem kann man von ihm lesen unter: achimwigand.michael-mueller-verlag.de

Foto: Hand-Buch von Gerd Neuhaus

Gerd Neuhaus, Jahrgang 44 aus Bochum-Wattenscheid, ist gelernter Dekorateur und Frauenversteher. Er hat dieses Mal zwei Stills fotografiert.

Sommerlese

Roman

Der "Zivildienstroman" ist eine komische Coming-of-Age-Geschichte aus dem Zivildienstleistenden-Milieu. Damit zählt das Buch zu den historischen Romanen, was der Autor beim Schreiben aber noch nicht wissen konnte.
In der Zwischenzeit hat bekanntlich ein adeliger Hochstapler, der kurz darauf in der Versenkung verschwunden ist, das Ende des Zivildienstes eingeläutet, aber Mitte der 1990er Jahre stand der Dienst (und der Autor) noch in voller Blüte und wurde gern als Zwischenlager für Jungs ohne dringenden Karrierewunsch genutzt.
Von dieser Zeit erzählt der Roman:
Drei Freunde haben die schier endlosen Jahre ihrer Schulzeit hinter sich gebracht und galoppieren nun mit mehr Enthusiasmus als Verstand in die Welt hinein, wo sie sich umgehend in den Fallstricken des Lebens verheddern. Als erste Hürde baut sich vor ihnen der Zivildienst auf, aber auch die Liebe entpuppt sich als schwieriges Geschäft.
Der Ich-Erzähler versucht seinem Herzen zu folgen und landet dabei unversehens im Behindertenbusiness, wo er Menschen mit recht beeindruckenden Flausen im Kopf kennenlernt, die er betreuen soll. Dabei hat er schon mit der Eigenbetreuung alle Hände voll zu tun, außerdem ist er nicht gerade der geborene Anführer. Die Damen und Herren Behinderten wissen nämlich meist ganz genau, was sie wollen, was man unserem Erzähler nun wirklich nicht nachsagen kann. "Das ist wirklich komisch, schräg, bissig. Und mit einem tiefen Verständnis für Jungs", fand Anna Pataczek vom Berliner "Tagesspiegel" und genauso war es ja gedacht.
Man könnte zusammenfassend sagen: Es geht um Sex, Drugs & Behindertenarbeit. Sollte man aber nicht, denn "Behindertenarbeit" ist ein blödes Wort und gibt nicht zutreffend wieder, welch berückende Abenteuer sich mit interessanten Herrschaften wie dem wilden Käpt´n Horsti oder Günter, dem Außerirdischen, erleben lassen. Der schweizerische Bibliothekenverband ist mutig und empfiehlt das Buch für Leser ab 12 Jahren. Der Autor empfindet das als große Ehre.

Christian Bartel

Christian Bartels „Zivildienstroman“ (Carlsen Verlag) sorgte live (30.6. Escapade-Print VÖ) für viel Vergnügen und wurde in Escapade Nr. 4 vorgestellt.

Foto: Buch, mit viel Luft zwischen den Seiten von Gerd Neuhaus

Sommerlese

Sachbuch - mal ernst

Geht es Ihnen manchmal auch so? Das Wort liegt Ihnen auf der Zunge, aber es fällt Ihnen beim besten Willen nicht ein. Ein Name, den Sie genau kennen, eine Bezeichnung, die Ihnen geläufig ist, eine bekannte Redewendung scheinen in Ihrem Wortschatz nicht mehr vorhanden zu sein. Später, beim Duschen oder Autofahren, ist der Begriff dann wieder da, so selbstverständlich, als wäre er nie „weg“ gewesen.
Sie haben eine Prüfung, und in Ihrem Kopf ist plötzlich nur noch ein schwarzes Loch. Blackout. Kommt Ihnen diese Situation bekannt vor? Sie hören einer Freundin zu, die Ihnen etwas erzählt, das Sie durchaus interessiert, bemerken aber plötzlich, dass Sie schon längere Zeit gedanklich abgeschweift sind. Wenn Sie jetzt nachfragen, wird es peinlich. Sie möchten eine Aufgabe erfüllen, aber Ihr Kopf fühlt sich an, als wäre er voll Watte. Ausschließlich. Ihnen wird schwindlig, wenn Sie versuchen, sich auf bestimmte Gedanken zu konzentrieren.
Oder Sie lesen eine Seite zum dritten Mal, ohne ihren Inhalt begriffen zu haben. 623 73 72 - nein, so eine leichte Telefonnummer brauchen Sie sich doch nicht zu notieren! Hätten Sie es doch getan, 15 Minuten später können Sie sich beim besten Willen nicht mehr an die Zahlen erinnern.
Falls Ihnen die eine oder andere Situation bekannt vorkommt, sind Sie genau der Leser, den ich mit diesem Buch ansprechen möchte. Es soll Sie dabei unterstützen, sich bei allem, was Sie tun, besser zu konzentrieren. Denn diese Fähigkeit ist ein wesentlicher Faktor für Erfolg und Erfüllung. Sie lernen, Inhalte entspannter aufzunehmen, um Ihrem Gehirn damit die Möglichkeit zu geben, sie sofort assoziativ zu verknüpfen. Dadurch behalten Sie die neuen Informationen besser, schaffen einen persönlichen Bezug zu ihnen und können sie genau dann, wenn Sie sie brauchen, leicht abrufen.

Carola Wegerle

Carola Wegerle ist Schauspielerin, Autorin, Kinesiologin und Kommunikationstrainerin. Sie lebt in München.

 

„Besser Konzentrieren“ von Carola Wegerle; Der Workshop für ein besseres Gedächtnis, Konzentration in allen Lebenslagen, plus DVD mit vielen Übungen.

Sommerlese

Empfehlung I

Vor einigen Monaten habe ich den russischen Schriftsteller Leonid Dobycin entdeckt, der 1936, in seinem zweiundvierzigsten Lebensjahr, noch am selben Tage spurlos aus Leningrad verschwand, an welchem bei einer Zusammenkunft des Schriftstellerverbandes sein erster Roman, „Die Stadt N“, vermutlich in der guten Absicht, bekanntere, ältere Kollegen zu schützen, zu einem Musterbeispiel des „Formalismus“ erklärt worden war, was zu jener Zeit in der Sowjetunion einem, wie mit Grund zu fürchten war, nicht nur künstlerischen Todesurteil gleichkam. Diesem entzog sich Dobycin. Seit dem Abend des 28. März 1936 wurde er nicht mehr gesehen (und es wurde auch keine Leiche gefunden). Leonid Dobycin hat ein kleines Werk hinterlassen. Darunter ist der zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene Roman "Surkas Verwandtschaft“. Der war das erste, was ich von ihm las, und diese Lektüre überwältigte mich so vollkommen, dass ich tagelang außer mir war und nicht wusste, wie mein Leben weitergehen sollte. Wem der Sinn nach so etwas steht, wer sich außerdem an hervorragender Buchgestaltung zu erfreuen und mustergültige Übersetzungen zu schätzen weiß (diese sind vom nicht genug zu preisenden Peter Urban), der sollte diese beiden Romane von Leonid Dobycin lesen.

Iris Hanika

Iris Hanika, Berlin, ist preisgekrönte Schriftstellerin („Treffen sich zwei“, „Das Eigentliche“). Sie hat das aufgeschlagene Buch fotografiert.

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Leonid Dobycin: Im Governement S. Surkas Verwandtschaft. Roman. Berlin Friedenauer Presse 1996. Leonid Dobycin: Die Stadt N. Roman. Berlin Friedenauer Presse 2009. Beide übersetzt und mit Anmerkungen und Nachwort von Peter Urban. (Wir bedauern, hier aus technischen Gründen nicht die kyrillische Schreibweise wiedergeben zu können)

Sommerlese

Empfehlung II

Bisher waren es Filme, wie "Amores Perros" oder "21 Gramm", die die brutalen Zustände der Korruption und den Fragen nach den Profiteuren auf US-Seite nachgingen, jetzt rückt im Land von Octavio Paz und Carlos Fuentes die zeitgenössische Literatur wieder ins Blickfeld. Im "Abgesang des Königs" eint der 1970 geborene Schriftsteller Yuri Herrera, zwei Genres, die Mexikos Kultur seit geraumer Zeit prägen: "Narccoriddos" und Narcoliteratur. "Narccoriddos" sind Lieder im Walzer- oder Polkarhythmus, die Drogenhändler glorifizieren. Zunächst entstanden als volkstümliche zynischen Beschreibung der Realität und mittlerweile verkommen zur Propaganda, der Drogenbosse. Die Narcoliteratur hingegen lässt sich nicht von den Kartellen vereinnahmen, sondern versucht einen bürgerlich-intellektuellen Widerstand gegen die kriminellen Verhältnisse aufzubauen.
Herreras "Abgesang des Königs" ist eine dichte poetische Parabel auf die mörderischen Verhältnisse in Mexiko. El Rey: Ein König, mächtig und grausam, einer, der die Musik liebt, sich gern unter das einfache Volk mischt und seinem Hofstaat gelegentlich seine Gunst erweist. Lobo, ein Musiker, der sich unter seinen Schutz stellt und mit seinen Lobliedern den Ruf des Königs mehrt, indem er passende Texte schreibt, die er mit einem guten Akkordeon-Soundtrack unterlegt. Je mehr Lobo erfährt, desto tiefer gerät er ins Zentrum eines perversen Systems. Wissen ist Macht, und so wird in dieser kunst- wie kraftvollen Parabel nicht zufällig der Künstler zur Gefahr in diesem Gefüge, in dem es außer dem Tod kaum ein "Außerhalb" geben kann. Jorge Volpi bemerkt bewundernd, dass Herrera eine "literarische Ballade" geschrieben hat, ein Buch, das so kompakt und auf den Punkt ist, wie ein gutes Narcorrido, indem in dreieinhalb Minuten alles gesagt sein muss über Leben und Tod.

Die bekannte Theaterschriftstellerin Sabina Berman legt mit "Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte" ihren zweiten Roman vor. Die Drogenmafia spielt darin keine explizite Rolle schwingt aber - wie auch die sozialen Konflikte zwischen der indigenen und hispanischen Bevölkerung - jederzeit mit. Die Geschichte handelt von der Autistin Karen, die schmerzvoll erlernen muss, "ich" zu sagen.
Als Karen Eltern sterben, übernimmt ihre Tante Isabella, die elterliche Thunfischfabrik und kümmert sich um das vernachlässigte und misshandelte Mädchen. Nach dem frühen Tod der Tante gelingt es Karen, die marode Firma zu neuen Höhen zu führen. Dank ihrer autistischen Inselbegabung, findet sie eine Methode, Thunfische zu töten, ohne vorher bei ihnen Angst auszulösen (somit werden keine geschmackszerstörenden Stresshormone frei gesetzt, die die Fleischqualität mindern). Ihre Firma expandiert weltweit – um schließlich das industrielle Töten der Thunfische auf überraschende Weise zu beenden. Die Außenwelt hält sie deshalb für eine Idiotin, die Ich-Erzählerin sieht das anders.
René Descartes Credo "Ich denke, also bin ich" empfindet sie als Frevel und sieht darin die Wurzel der menschlichen Überheblichkeit gegenüber seiner Umwelt: "Man muss ja nur zwei Augen im Kopf haben, um zu sehen, dass alles, was existiert, erst existiert und dann etwas damit geschieht. Aber am Unglaublichsten ist, dass dieser Philosoph nicht vermutet, dass es so sein könnte, sondern nur in Worte fasst, was die Menschen von sich selbst glauben. Dass sie erst denken und dann existieren. Und das Schlimmste kommt erst noch. Dass die Menschen, eben weil sie in dem Glauben leben, dass sie erst denken und dann existieren, auch glauben, dass alles, was nicht denkt, nicht existiert. Ich dagegen habe nie vergessen, dass Ich erst existierte und dann, mit großer Anstrengung, zu denken lernte. Tja, das ist meine Entfernung zu den Menschen." Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte" ist zum einen ein engagierter Entwicklungsroman, zum anderen liest er sich wie ein spannender Wirtschaftskrimi und ist unbedingt lesenswert.

Gunda Wienke

Gunda Wienke ist Redakteurin bei „Matices – Zeitschrift zu Lateinamerika, Spanien und Portugal“ in Köln.

Sabina Berman: "Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte", deutsch von Angelica Ammar, S.Fischer, 303 Seiten, 19,95 Euro. Yuri Herrera: "Abgesang des Königs", S. Fischer, 142 Seiten, 14 Euro.