Editorial

 

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

wir rücken zusammen, auch wenn nationale Eiferer in Europas Zentrum das verhindern wollen.
Wir sollten gern zusammen rücken, denn durch Nähe entsteht Wärme, und die können wir dringend gebrauchen, auch wenn kein Wintereinbruch droht.

Escapade belles-lettres wirft einen Blick über den Tellerand – nach Thilo Sarrazins Rezept vielleicht gefüllt mit deutschem Eintopf, der in deutschen Mägen deutsches Einerleigegrummel erzeugt und die Verdauung dann so sehr beschäftigt, dass die Köpfe das Denken ganz einstellen.

Unser Thema dieses Mal heißt „deutsch-polnische Freundschaft“, und ums Essen geht es dabei auch. Aber dies nur am Rande.
Deshalb wünschen wir Euch zwar einen guten Appetit, aber lieber noch mehr Weitsicht.

Eure,
Flora Jörgens und Silke Vogten

 

Fotos: Leba, Morze und Leba, Pierogarnia von Roman Hromadko

Polen / Deutschland

 

Ich fahre jedes Jahr nach Polen, zum einen, um die Verwandten und Freunde zu besuchen, und zum anderen, weil ich erst JETZT Zeit habe, Polen kennen zu lernen. Als Tourist hat man in Polen Zugang zu unberührter Natur. Es gibt noch richtige Wildnis wie zum Beispiel im Südosten die Karpaten und viele Nationalparks. Die existieren in Deutschland zwar auch, aber das ist kein Vergleich, die sind von einer Touristenindustrie für Touristenströme. In Polen ist man ganz allein und hat die Natur ganz für sich.

Die Menschen in Polen sind definitiv anders. Warmherziger, offener. Es gibt so eine professionelle Freundlichkeit in Deutschland, ja, mir fällt dazu das Wort „industrialisiert“ ein, ich weiß nicht, wie ich das anders beschreiben soll.

Es gibt weniger Paragrafen in Polen und weniger Papierkram, wenn du nichts Schlechtes machst, wirst du auch in Ruhe gelassen. Hier hatte ich so viele Papiere in einer Woche auszufüllen wie in Polen in meinem ganzen Leben zuvor.
Das Essen ist in Polen viel besser. Vielfach mit alten Rezepturen zubereitet. Es gibt vielleicht nicht so viele Sorten Würstchen, aber wenn du hier die Augen beim Würstchenessen schließt, schmecken die vielen Sorten alle gleich, und du kannst sie nicht mehr unterscheiden. In Polen gibt es noch richtig ursprüngliche Produkte, ich meine gar nicht mal „bio“, das ist was anderes. Aber unbearbeitet. Du kannst zum Beispiel richtig frische Milch kaufen, und wenn du sie stehen lässt, wird tolle Buttermilch daraus oder Quark. Klar, es gibt in Polen auch große Farmen, aber das Fleisch schmeckt generell anders. Die Lebensmittel sind billiger, verhältnismäßig vielleicht nicht, aber du hast viel mehr Möglichkeiten, richtig gute Produkte zu kaufen. Und bei Festen in Polen müssen sich die Tische biegen unter der Last.

Ich kann allen Deutschen nur raten hinzufahren. Vor allem, wenn sie etwas über ihre eigene Geschichte erfahren wollen. Hinfahren! Gerade meine Generation erkennt das. Die Polen pflegen generell ihre eigene Geschichte besser und damit die deutsche Geschichte gleich mit. Wenn in Deutschland polnische Geschichte gepflegt wird, dann nur auf polnische Initiative.
Beim Konzentrationslager Vaihingen an der Enz gab es lange Jahre keinen Hinweis, nichts. Bis ehemalige Häftlinge aus ganz Europa darauf gedrungen haben, dort eine Gedenkstätte zu errichten. Erst da gab es im Dorf eine Bürgerinitiative, die das unterstützt hat.
Die Deutschen können mit ihrer Vergangenheit nicht umgehen.

Roman

Roman Hromadko, Jahrgang 51, lebt seit 1988 in Deutschland. In Polen war er Fotoreporter und Kameramann, hier arbeitet er als Tontechniker beim WDR und fotografiert sehr viel in Polen. Damit seine erwachsenen Söhne sehen, was er sieht und was auf diese Art konserviert werden kann, bevor es vielleicht verschwindet.

 

Fotos: Leba, Plaza Morze und Smazalnia Przymoscie von Roman Hromadko

Polen

 

Ja, Polen - was ist anders? Irgendwie auf den ersten Blick nicht so viel, die Leute sehen aus wie wir (obwohl: der Polin Reiz ist unerreicht), die Autos auch, Schick und Stil haben weder wir noch die Polen erfunden (Ausnahmen bestätigen die Regel).
Das Essen, ja: wenn man das Glück hat, einen Vegetarier zum Tourbegleiter zu haben, dann findet man die leckersten Pirogi Ruski der Welt, gerne ein Piwo dazu, Wein ist nicht so beliebt (weil zu teuer!).
Fleissiger sind sie! Vielleicht in Vorbereitung auf die Fussball-EM sieht man sie überall baggern und buddeln und bauen. Auch am Wochenende. Und gläubiger: der Petersdom beispielsweise steht nicht nur in Rom, wie man vielleicht glauben könnte. Auf dem flachen Land in Polen, in einem klitzekleinen Dorf, in dem vor 100 Jahren ein Mann eine Marienerscheinung hatte, steht eine Kopie, genauso gross, leider nicht so schön, da nicht mit dem gnädigen Mantel von Jahrhunderte alter Patina geschmückt...eher oligarchisch - kitschig - protzig.
Und die Menschen: herzlicher, offener, warum? Ich weiss es nicht. Vielleicht noch ein Erbe der sozialistischen Diktatur, in der man sich ja nicht über Konsumgüter definieren konnte. Doch auch das wird sich angleichen, da bin ich mir (leider) sicher.

Regina

Regina Janssen war als Sängerin von Donna Regina im September zum fünften Mal auf Tournee in Polen, aber auch privat ist sie schon dort gewesen. Ein P.S. schickt sie noch: „...unser polnischer freund janusz sagte auf die frage, welche polnischen städte ihm am besten gefielen: krakau, posen und berlin. das ist zwar geografisch nicht ganz richtig, ich wusste aber genau, was er meinte...“

 

Fotos: Donna Regina in Polen von Regina Janssen

Deutschland

 

Gern geben wir Euch ein paar unserer Eindrücke wieder.
1. Es kommt uns so vor, als dass die Menschen mehr Wert auf eine saubere Umgebung legen; wir fanden es erstaunlich, dass selbst dort, wo Orte total seltsame Öffnungszeiten für ihre Mülldeponien angeben (z.B. montags 10-12 Uhr, mittwochs 12-14 Uhr), sich die Leute dort danach richten. In Polen (und am wenigsten in Warschau, Radomsko, Grójec) würden die Leute für die Müllentsorgung niemals solche merkwürdigen Uhrzeiten akzeptieren. Wenn sie ihnen auferzwungen würden, dann würden sie sich wahrscheinlich überhaupt nicht um die Entsorgung kümmern. Also so allgemein, vielleicht gäbe es Ausnahmen, jedoch wären die ungewöhnlich.
Aber das finden wir in Deutschland positiv.
2. Eure Autobahnen sind nahezu perfekt, keine Geschwindigkeitsbegrenzungen und man muss nicht für die Benutzung zahlen. In unserem Land gibt es nicht so viele Autobahnen und für die meisten müssen wir zahlen.
3. Eure Läden sind sonntags geschlossen, und in Polen sind die meisten geöffnet. Mir gefällt das bei Euch, denn man kann es wirklich spüren, dass es einen Ruhetag gibt, und das erinnert mich an meine Kindheit, als in Polen sonntags alles geschlossen war. Damian empfindet es jedoch lediglich als überflüssige Komplikation in seinen Wochenplan :-)
4. Eine lustige und seltsame Sache war, komplett nackte Erwachsene an den Stränden von München zu sehen, wo man uns doch gesagt hatte, dass gerade Bayern das konservativste Land in Deutschland ist. In Polen fände man schwerlich solche Leute am Strand geschweige denn an Orten inmitten einer Stadt.
5. Aber wir beide finden polnische traditionelle Mahlzeiten viel leckerer als deutsche. Bigos, pierogi and rosól rules!!!

Aga & Damian (aus dem Englischen übersetzt)

Agnieszka, 29, hat Deutschland dreimal bereist, 2006, 2009, 2010. Jedesmal hat sie es sehr genossen. Sie lebt als Juristin in Warschau, liest gern, mag Filme, Tanzen und Sport.
Damian, 29, kommt seit 1998 jedes Jahr nach Deutschland, mindestens für ein paar Tage. Er lebt in Warschau, ist Jurist, mag gerne schwimmen, Fußballgucken, gärtnern, am liebsten Rasen mähen vor Agniezskas Haus.

 

Fotos: Aga & Damian in Bayern von Agnieszka und Damian