Editorial

 

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

»Sex?« fragten wir in der letzten Ausgabe, und so könnte das Thema der neuen »Escapade« ganz selbstverständlich lauten »& crime«.
Nur: So schlicht lässt sich der Zweiteiler »Hotelflucht« von Alma Luis nicht einordnen. Sprachlich ist er freundlich wie eine Geschichte, die man gern Kindern vorliest. Aber ob Liebhaber des Horror-Genres oder nicht, sozialisationsbedingt sind wir misstrauisch – »Shining« wurde vor 30 Jahren verfilmt. Oder ist die Story hier Thriller-Lesestoff? Ein Krimi, in dem ein Mord geschieht? Hmmm...

Wir behaupten: eine Liebesgeschichte. Denn »Escapade« hat das verlegerische Ziel, sich den schönen Dingen des Lebens zu widmen. Außerdem ist Frühling. Behaupten wir auch.

Jedenfalls kann es Alma Luis nicht passieren, dass sie in einen Streit ums Drehbuch gerät wie Stephen King mit Stanley Kubrick. Denn: Ihr Zweiteiler ist unverfilmbar. Behaupten wir zusätzlich noch. Visuell kann man ihn einfach nicht umsetzen, und so gab es innerhalb der Redaktion über die Fotostrecke viel Kopfzerbrechen.

Dass es dennoch gelungen ist, verdanken wir den Motiven der jungen Fotografin Ina Anderle. Mehr von Ina gibt es zu sehen unter: www.myspace.com/elektrohoppel und natürlich hier.
Viel Spaß beim Lesen wünschen Euch wie immer

Eure
Flora Jörgens und Silke Vogten

Foto: Ina Anderle

Hotelflucht

Teil I

»Sollen wir nicht lieber noch Leila und Steff fragen, ob sie mitkommen wollen?« Susie schaute mich aus großen Augen an, und ich konnte darin ein leichtes Flackern sehen. »Hah! Hast wohl Angst, was?« Höhnisch wackelte ich mit dem Kopf. »Außerdem kann sich Leila bei ihren Brüdern, die heute abend ausnahmsweise mal alle zu Hause sind, kaum unbemerkt davon stehlen, und Steff... « mir fiel gerade nicht ein, warum ich Steff nicht dabei haben wollte. Lieber zog ich heute alleine mit der kleinen Susie los. Vielleicht, um mich ihr gegenüber stärker und mutiger zu fühlen, als ich es in Wirklichkeit war, und um mich über ihre Ängstlichkeit lustig zu machen. Und natürlich würde sie mir prima als Zeugin dienen, wenn ich später vor den anderen mit meinem Wagemut prahlte. Da war es auch egal, dass sie eigentlich noch nicht das nötige Alter hatte, um mit mir, einer der »Großen«, auf Entdeckungstour gehen zu dürfen.

»Komm schon, wir packen das alleine.« Mit diesen Worten marschierte ich voran. Eng an die Wand gepresst, kamen wir den Gang entlang bis zum Aufzug.
»Na, biste schon mal mit so nem Ding gefahren?« Ich drehte mich zu Susie um, die mir dicht gefolgt war. »Neeiiin«, kam es zaghaft. »Dann pass jetzt gut auf. Erst hörst du ein ‘Ping’, dann öffnet sich die Tür und wir rennen los. Du mußt nur aufpassen, nicht in den Rillen hängen zu bleiben.« Ich konnte es mir nicht verkneifen, hinzuzufügen »Da wirst du nämlich sonst von der selbst schließenden Tür eingeklemmt.« »Ohh«, entfuhr es Susie.
Die Kleine hinter mir wissend, starrte ich auf die Stahltür vor uns.
Ich war startklar und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. ‘Ping’, wurde die Ankunft des Lifts angekündigt, und die Tür öffnete sich. So schnell ich konnte, schoss ich nach vorn, an einer hochgewachsenen Blondine vorbei, die mir entgegen kam, flog förmlich über die Türrillen, und drin war ich. Geschafft!
Ich drehte mich um und sah, wie Susie auf mich zuraste, ihr Gesicht angespannt und ihre Augen weit aufgerissen. »Heh, nun mal langsam hier, du rennst mich ja fast über den Haufen«. Sie konnte nicht schnell genug bremsen, und so kullerten wir beide in eine Ecke des Aufzugs, als ein erneutes ‘Ping’ das Schließen der Tür ankündigte.

Wo es wohl hin ging? Vielleicht hoch, in den obersten Stock, wo diese riesigen Suiten sein sollten, von denen Onkel Benno erzählt hatte. Dort stand manchmal sogar Kaviar auf dem Tisch.
»Auf keinen Fall geht ihr dahin! Es ist viel zu gefährlich, da sollt ihr euch nicht herumtreiben.« Mama hatte nur den Kopf geschüttelt, als ich ihr von Onkel Bennos Geschichten erzählte.
»Dein Onkel riskiert noch mal Kopf und Kragen für die Überreste eines Luxusessens. Und du scheinst genau seine waghalsige Ader geerbt zu haben! Nimm dich bloß in acht und mach keinen Unsinn!«
Ja ja, das hörte ich oft. Aber das war doch gerade das Spannende daran, in einem der größten Hotels der Stadt zu wohnen. Im »Belle Escapade«... welch eine Adresse!

Stars, Musiker, Politiker - alle stiegen sie hier ab. Und wir – mittendrin und ungesehen! Jedenfalls meistens.
In dem Teil des Hotels, in dem wir lebten, befanden wir uns in der »Sicherheitszone«, wie die Erwachsenen sie nannten. Dieser Teil war renovierungsbedürftig, und keines der Zimmer wurde an Hotelgäste vermietet. Hier hatten wir feste Fluchtwege, unauffällig und gut ausgebaut. Nur die Erwachsenen durften hier raus. Uns Kleinen war es streng verboten, diesen Bereich zu verlassen, doch gab es nichts Aufregenderes, als Neuland zu erkunden.

Ein Ruck und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Nach unten ging's, das merkte ich sofort in der Magengrube. Susie stellte sich breitbeinig hin, um die ungewohnte Schwankung ausbalancieren zu können.
»Wenn wir im Foyer landen, dann sind wir geliefert«, zischte ich ihr ins Ohr. »Da sind so viele Menschen, da gibt es keine Chance.« Susie zitterte am ganzen Körper. Innerlich lachte ich mich kaputt über soviel Naivität. Wie leicht man sie doch erschrecken konnte. Eben typisch für ihr Alter. »Na, na, nun mal nicht jetzt schon vor Angst sterben«, ich klopfte ihr auf die Schulter, »irgendwo gibt´s immer einen Fluchtweg. Wir sind doch jung und schnell und nicht so fett und träge wie Herr Schuster«. Herr Schuster war im Foyer erwischt worden. Das hatte uns auch Onkel Benno erzählt, der alles aus einem sicheren Versteck beobachtet hatte. Sagte er wenigstens.

‘Ping’

Ich schaute auf die Anzeige; vierte Etage, also nicht das Foyer – noch nicht wenigstens. Die Tür öffnete sich lautlos, und ein Geschäftsmann im Zweireiher mit Aktenkoffer kam herein. Als er den edlen Lederkoffer links neben sich abstellte, würdigte er uns keines Blickes, schaute ebenso demonstrativ wie angewidert auf seine Armbanduhr, indem er mit großer Geste den Sakkoärmel übers Handgelenk schob und konzentrierte sich dann angestrengt auf die Digitalanzeige mit den rot aufleuchtenden Etagennummern. Jedenfalls war ich mir sicher, dass er uns gesehen hatte.
»So ein Affe«, raunte ich Susie zu, »tut so, also ob wir Luft wären. Solche hab ich gern, die springen oft vor Schreck meterhoch, wenn sie aus einem dunkleren Teil des Hotelgangs kommen und doch plötzlich mal vor uns stehen.« Auch das wusste ich von Onkel Benno. »Dann quietschen sie wie Eunuchen.« »Was sind denn Eun...«, Susie kam nicht mehr dazu, ihren Satz auszusprechen, da machte ein erneutes ‘Ping’ uns darauf aufmerksam, dass die Fahrt wieder unterbrochen wurde.

»Das Foyer!«

Die Tür surrte zur Seite, und eine neue Welt tat sich vor uns auf. Wie festgenagelt schauten wir nach draußen, wo es vor Menschen nur so wimmelte.
Der eingebildete Schnösel ergriff seinen Aktenkoffer und verließ den Aufzug, so dass wir freie Sicht auf das Geschehen vor uns hatten. Ein roter Teppichläufer führte vom Lift bis hin zur Rezeption, wo eine schlanke junge Dame im schmuckem Kostüm gerade mit einem ganz dunkelhäutigen Herrn redete, der so eine Art Umhang trug, mit Strickmütze auf den krausen schwarzen Locken.
Links kamen gerade vier gut aussehende Männer in dunkelblauen Uniformen mit Goldlitzen durch die gläserne Drehtür ins Foyer. Ihr Aftershave roch ich bis hierher. Begleitet wurden sie von drei Frauen in den gleichen Jacken aber blauen Röcken, die lächelnd rechteckige Taschen auf Rollen hinter sich herzogen. An den Wänden hingen Gemälde, jedes einzelne von einer Lampe angestrahlt, was dem ganzen riesigen Raum etwas Vornehmes, Edles gab. Leise Stimmen und dann ein helles Frauenlachen übertönten das ansonsten sanft perlende Gemurmel.
Mit offenem Mund schaute ich nach rechts, wo ich einen Zimmerkellner – mit einigen hatte ich schon unangenehme Begegnungen gehabt, die glücklicherweise immer glimpflich ausgegangen waren – sehen konnte, der einen weiß-gedeckten Servierwagen vor sich her schob.
Essen! Schon begann mein Magen zu rumpeln, als die Tür – ‘Ping’ – sich zu schließen begann.
»Stoppstoppstöppchen…« hörte ich eine Stimme und schon hatte der Mann vom Room-Service seinen Fuß zwischen den Türspalt geklemmt. Mit einem beleidigten ‘Päääp’ zogen sich die Stahlhälften zögernd wieder auf.
Er schob den Wagen, unter dessen silbernen Hauben ich allerlei Delikatessen vermutete, ins Aufzuginnere und trat dann erst selbst ein.
»Tut mir leid, der Herr, aber ich muss runter. Bitte nehmen Sie doch den Lift nebenan, der wird Sie in Ihre Etage bringen.« Ich konnte gerade noch die Schuhspitzen des Hotelgastes sehen, der vom Room-Service gebeten wurde, sich in Geduld zu üben.
Das lange Tischtuch des Servicewagens verdeckte uns perfekt.
»Keine Bewegung!« murmelte ich Susie überflüssigerweise zu, »Und keinen Mucks!«. Susie war starr vor Schreck und überhaupt unfähig, auch nur einen Laut von sich zu geben.
Die Digitalanzeige war jetzt verdeckt, aber ich spürte, wie der Aufzug sich wieder nach unten bewegte.
Weiter runter als das Foyer?! Das hatte noch keiner von uns geschafft, ja nicht einmal gewagt! Wohin ging unsere Fahrt jetzt? Gab es noch eine Welt unter dem Foyer? Susie und ich sahen uns an. Nun wurde mir doch mulmig. Ich unterdrückte einen nervösen Schluckauf. Die Zeit schien stehen zu bleiben bis mich ein ‘Ping’ wieder ins Hier und Jetzt versetzte.
Nun hieß es Aufpassen.
Auf unbekanntem Terrain erst einmal einen schwer einzusehenden Winkel aufsuchen, und dann, aus der schützenden Dunkelheit, die Lage peilen. Diese überlebenswichtige Weisheit wurde uns praktisch in die Wiege gelegt, und war der beste Garant, aus kniffligen Situationen heraus zu kommen.
Der Servierwagen wurde ratternd vom Kellner über die Rillen hinaus gezogen. Aus meinem rechten Augenwinkel hatte ich einen niedrigen Edelstahltisch erblickt, der uns wenigstens vorläufig Schutz geben konnte.
»Los! Renn, Susie, mir nach«. Ohne einen Gedanken an die dummen Türrillen zu verschwenden, spurteten wir beide los, ich voraus, Susie mir dicht auf den Fersen.
Sobald ich aus dem Lift raus war, spürte ich einen beißenden, sehr scharfen Geruch in der Nase, der mir fast den Atem nahm. Mit angehaltener Luft lief ich weiter. Beinahe wurde mir schwarz vor Augen, als wir unser Versteck erreichten. Geschafft! Wenigstens vorläufig.
Aber was war das für ein Gestank?
Ich blickte Susie an. Ihr ekelverzerrtes Gesicht sagte mir, dass es ihr ähnlich ging. Der stechende Geruch nahm mir fast die Sinne, und mir wurde schummrig.
Chlor! Das war es. Ich hatte es noch nie zuvor gerochen, aber das musste es sein. »Nehmt euch vor chlorhaltigen Reinigungsmitteln in Acht.« Ich hörte die Worte meiner Mutter, wie sie uns immer und immer wieder predigte, dass so etwas unangenehmes Kratzen und Schwindelgefühl verursachen konnte. In reiner Form und bei direktem Kontakt konnte es sogar zu irreparablen Schäden führen.
»Wir müssen hier weg«, preßte ich hervor, »dieser Gestank... « Bloß raus hier. Kurz sondierte ich unsere Umgebung. Wo waren wir nur? Die Wände waren weiß gekachelt, der Boden grau gefliest, kein Stäubchen zu sehen, doch durch den Chlorgestank hindurch roch ich Essensdünste, und schon rumpelte mein Magen wieder.
»Hunger«, hörte ich Susie neben mir leise quengeln.
Ganz langsam und vorsichtig näherte ich mich dem Stahl-Tischbein und linste um die Ecke. Links von uns war nur der Lift, da gab es keinen Ausweg. Rechts aber sah ich einen Gang, der auf einen anderen, größeren zu führte. Dieser wiederum endete an zwei Schwingtüren, jede mit einem Bullauge. Menschen in schwarz-weiß-karierten Hosen und weißen Hemden eilten ein und aus. Und daher kam auch dieser verführerische Duft nach Essen. «Nichts wie hin« war mein erster Gedanke während mir das Wasser im Mund zusammen lief.
Susie drückte sich an mich, auch sie blickte sehnsüchtig Richtung Paradies.
»Bitte, bitte, nur einmal dort rein«, Susie schluckte und sah mich flehend an. In dieser Situation vertraute sie, die Kleine, meiner Erfahrung und meinem Tatendrang. Stolz löste diese Vertrauen in mir aus, aber gleichzeitig fühlte ich mich hoffnungslos überfordert in meiner Rolle als Beschützerin. Denn ich war auf völlig unbekanntem Terrain und somit genauso unerfahren wie die Kleine, wollte es aber vor ihr nicht zugeben. Jetzt nur keinen Rückzieher machen und das Gesicht verlieren. Was würde Susie denn den anderen berichten, wenn wir jetzt klein beigäben und umdrehten? Es gab nur einen Weg: nach vorn.
»Komm, das packen wir jetzt«, ich stupste sie an und blickte aufmunternd in ihr kleines Gesicht, in dem sich Angst und gleichzeitig Zuversicht widerspiegelten.
»Wir arbeiten uns bis zu der rechten Schwingtür vor, immer an der Wand entlang, und dann, wenn einer durchgeht, flitzen wir im Schatten seiner Beine rein ins Schlaraffenland.« Ja, so würde es funktionieren, versuchte ich mich selbst zu überzeugen.
Ohne lange die Gefahren abzuwägen, machte ich mich auf den Weg. Ich brauchte mich nicht umzuschauen, ich wusste, dass Susie mir folgte. Was blieb ihr auch übrig? Unbemerkt kamen wir bis kurz vor die beiden riesigen Schwingtüren.
Der Chlorgestank war immer noch allgegenwärtig, es kratzte unangenehm im Hals, doch die Vorfreude auf das, was uns hinter den Türen erwartete, machte den Schmerz erträglicher.

Nun trennten uns nur noch wenige Meter vom Himmel auf Erden. Ich schloß die Augen und sah mich schon inmitten einer riesigen Sahnetorte sitzen, von der ich eine kandierte Kirsche nach der anderen vernaschte. Danach würde ich ein Bad in geschmolzener Schokolade nehmen, und mich durch Berge von Baiser fressen... »Gib Gas, Susie, los«, gab ich das Kommando und trippelte los, die Kleine im Schlepptau. War es die betäubende Wirkung des Chlors oder meine Gier, die mich lähmte, dass ich nicht so schnell wie sonst laufen konnte? Wir befanden uns genau auf der Hälfte des Weges, als ich ein durchdringendes »Ihhhhhhhhhhhhhhhhh« hörte und erstarrte. Genau vor uns stand der Zimmerkellner, mit dem wir eben noch den Lift geteilt hatten und blickte mit entsetztem Gesicht auf uns herab. »Ihhhhhhhhhh!« Nochmals, und wie eine Feuerwehrsirene stieß er einen hysterischen Schrei aus. Das war unser Stichwort, oder hätte es zumindest sein sollen. In so einem Fall hieß es normalerweise »Rennen, Rennen und nochmals Rennen« bis zum nächsten Fluchtweg.
Doch hier? Auf unbekanntem Terrain, mit einem Kopf, der irgendwie taub wurde. Dazu der Schreck in den Gliedern.
Ich spürte wie Susie sich an mich drängte und versuchte, sie abzuschütteln. »Bloß keine Panik! Augen auf und loslaufen«, das hatte Onkel Benno immer wieder gesagt, wenn er von seinen riskanten Eskapaden erzählte. »Cool bleiben und alle Seiten nach einem Ausweg abscannen«. Ich musste den Moment der allgemeinen Verwirrung nutzen, der nun eintrat. Auf den Schrei des dummen Kellners hin kamen einige der Karohosen angerannt. »Was ist denn hier los«, »Wer schreit denn da so«, »Laßt mich mal sehen«.
Die Schwingtüren öffneten sich weit, und eine sehr dicke Karohose mit hohem weißen Hut trat auf den Gang. »Wer hat hier so rumgebrüllt?« hörte man seine energische Stimme. »Paul vom Room-Service«, sagte jemand.
»Ich...da waren... ich hab sie gesehen.... hier!....«
Das war unsere Chance. Die beiden Türen mit den Bullaugen schwangen bedrohlich hin und her. Schnell weg hier, alles andere würde sich dann zeigen.
»Lauf, Susie, lauf, gib alles«. Ein Blick in ihr panisches Gesicht zeigte mir, dass sie verstanden hatte. Wir stießen uns von der Wand ab.
»Daaaaaaaaa! Da sind sieeeeeeeeee«, das war wieder der blöde Kellner.
»Kakerlaken!!!!!!!! Zwei Stück!!!!!« Damit hatte er die Treibjagd eröffnet. Alle Karo-Beine, die bis dahin um den kreischenden Typen herumgestanden hatten, waren nun hinter uns her.
Raus hier! »In Momenten der Not ausschließlich an sich selbst denken« war eines unserer Grundgesetze. Nur so war ein erfolgreiches Überleben unserer Rasse gewährleistet. Ich durfte mich nicht mehr nach Susie umschauen. Ich rannte, ich rannte um mein Leben. Meine sechs Füße galoppierten über die Fliesen, mein schwarzer glänzender Körper flog förmlich dahin.
Doch überall Schuhe, die mir den Weg versperrten. Im Zickzack floh ich wieder Richtung Wand. «Ich hab´ sieeeeee!!« hörte ich eine schrille Stimme hinter mir. Gegen jede Vernunft hielt ich inne, blickte nach hinten.
Und sah einen der Schuhe auf Susie niedersausen. Ein Schrei blieb mir in der Kehle stecken, als ich das laute und gleichzeitig hämische Knacken hörte, mit dem Susies Leben ein Ende fand.

Ende Teil I

Foto: Ina Anderle

Hotelflucht

Teil II

Einen Moment setzte mein Herz aus. Susie...! Die kleine Susie war tot!
Dann besann ich mich. Weg hier! Nur weg! Ich raste weiter, Schuhen ausweichend, ohne Ziel. Da, eine Mülltonne! Ich presste mich zwischen Tonne und Kachelwand und schnappte nach Luft. Bis ich merkte, wie der Spalt zwischen Tonne und Wand breiter wurde. Diese Mistkerle zogen an der Mülltonne! Schon fielen die ersten Lichtstrahlen von oben auf mein Versteck. Ich rannte wieder los.
»Da! Da ist sie!«, hörte ich sie hinter mir.
Immer entlang der Wand! In der Fuge bleiben!! Ein Schuh versuchte mich zu erwischen, aber die abgerundete Kreppsohle glitt am Fliesensockel ab.
Im grauen Kachelboden blitzte plötzlich ein kleiner Abflußgulli mit silbernem Metallgitter auf. Er lag jedoch jedoch gefährlich weit in der Mitte der Küche. Ich musste raus aus der Deckung.
Mit allerletzter Kraft schaffte ich es. Die Spalten zwischen den Gitterstäben sahen eng aus. Egal! Ich quetschte mich durch und ritzte mir meinen Chitinpanzer dabei ein wenig auf. Es tat weh, aber ich war gerettet!
Über mir hörte ich die Meute toben, aber hier war ich sicher. Auch wenn es sehr nach Chlor stank. Hauptsache, ich lebte noch. Aber Susie?!
Die furchtbaren Bilder liefen noch einmal in meinem Kopf ab. Das schreckliche Geräusch, als der Schuh sie zertrat. Dieses Knacken und fast zeitgleiche Matschen - mir wurde schlecht. Ich stützte mich mit meinem rechten vorderen Fuß an einem gußeisernen Vorsprung ab, mein Kopf fiel nach vorn, ich würgte.

Wie sollte ich Susies Mutter entgegen treten? Wie ihr mitteilen, dass die Kleine durch meine Schuld umgekommen war? Aber sie war ja freiwillig mitgekommen, versuchte ich mir einzureden. Freiwillig? Wie freiwillig sind denn Mutproben schon? Susie hatte nicht als Feigling gelten wollen. Und jetzt?
Ich setzte meine Beine erneut in Bewegung. Noch war ich nicht vollständig aus der Gefahrenzone raus, und irgendwie mußte ich ja auch nach Hause kommen. Bis dahin konnte ich immer noch überlegen, was ich Susies Mama erzählen sollte.
Erschöpft torkelte ich vorwärts. Irgendwo würde ich schon hinkommen. Die Abflußrinne führte abwärts, bis sie auf ein Rohr stieß, das nach rechts oben führte. Da ich ja auch irgendwie nach oben mußte, bog ich hier ab und begann den Anstieg. Ich weiß nicht, wie lange ich mich schon schleppte, ich verlor jegliches Gefühl für Zeit. Es ging immer steiler bergan, doch die Anstrengung bemerkte ich kaum. Zu sehr kreisten meine Gedanken um das schlimme Erlebnis.
Waren da nicht Geräusche? Ich blickte hoch. Nur ein paar Meter über mir sah ich wieder ein Abflußgitter. Vorsichtig näherte ich mich den Metallstäben, durch die Licht nach hier unten drang. Ich hörte Stimmen, konnte leise Musik ausmachen und es war taghell dort. Neugier überkam mich, doch dieses Mal wollte ich vorsichtiger sein. Ganz langsam steckte ich erst meinen linken Fühler und dann meinen Kopf durch einen Spalt nach oben. Ich war im Foyer!
Zwischen hell poliertem Marmor sah ich den roten Teppich, der vorm Lift endete. Was gäbe ich nur dafür her, die Zeit zurückdrehen zu können. Ach, steckte ich doch noch mit Susie im Aufzug! Ich mußte hemmungslos weinen.
Nach einer Weile wurde mir aber klar, dass ich nicht ewig hier herumstehen konnte. Wohin jetzt? Ich blickte nach rechts, und mir stockte den Atem. Da krabbelte doch… ja, keine Frage, nur wenige Meter von mir entfernt spazierte ein Artgenosse, der mir völlig unbekannt war, seelenruhig an der Wand lang. Aber das konnte doch nicht sein! Was machte der denn hier? Als schien er mein Blick zu spüren, hielt er inne, drehte sich zu mir um und schaute mich direkt an. Ich war perplex. Sollte es außer unserer großen Kolonie im sechsten Stock etwa noch mehr unserer Rasse in diesem Hotel geben, ohne dass wir davon wußten? Nun kam der Kerl auch noch schnurstracks auf mich zu! Wie sollte ich mich verhalten? Fliehen? Versuchen, ihn zu erschrecken? Noch bevor mir was Sinnvolles einfiel, stand er schon vor mir.
»Hi«, sagte er, »wer bist du denn?«. Was für eine Unverfrorenheit! Das, zugegeben, nicht unansehnliche, Bürschchen lächelte mich an. »Claudia«, antwortete ich mechanisch, »Was, was machst du hier?« Besonders souverän wirkte ich mit meinen verquollenen Augen nicht. »Tach auch. Ich bin Michael, aber du kannst mich Mike nennen, das ist cooler. Und ich wohne hier im Hotel.«
Meine Miene musste wohl ziemlich ungläubig gewesen sein, denn Mike lachte schallend. »Claudia, komm mit, ich stelle dich den anderen vor.« Ich zögerte.
Außerdem wollte ich nicht so einfach mein relativ sicheres Versteck verlassen. Mike beruhigte mich: »Keine Sorge. Es kann nichts passieren. Das ist der hintere Teil der Rezeption, hier wird nicht immer so auf Sauberkeit geachtet. Außerdem haben wir in Pete, dem Nachtportier, einen Gönner, der verrät uns nicht. Er sagt immer, alle Lebewesen seien Gottes Geschöpfe, und selbst wir hätten eine Daseinsberechtigung. So ganz verstehe ich das zwar nicht, aber es ist gut so. Sagt wenigstens Bruno.« Wer zum Teufel waren nun Pete der Nachtportier und erst Bruno? Verwirrt trabte ich meiner neuen Bekanntschaft hinterher. Wir gelangten durch einen Türspalt in einen Raum, der offensichtlich als Besenkammer genutzt wurde. Das Gemisch aus dem mir schon bekannten Chlor zusammen mit anderen Reinigungsmittel stieg mir in die Nase, aber es war zu verkraften. Als wir um die nächste Ecke bogen, staunte ich nicht schlecht. Ich sah gut 25 Kakerlaken, die sich gerade über einen halb verfaulten Apfel hermachten.
»Hey Leute, ich bring Besuch mit, macht mal Platz.« Die Gruppe teilte sich, und wir standen vor dem größten und schwärzesten Tier unserer Rasse, das ich je gesehen hatte. »Bruno, das ist Claudia«, sagte Mike und schubste mich ein wenig nach vorn. Seine Stimme schien gleichgültig, aber ich merkte sofort, daß er Respekt vor diesem Männchen hatte. »Ich glaube, sie hat sich verlaufen.« »Hhhmmmm«, brummte Bruno, »verlaufen hat sie sich, die Claudia.« In meiner Kehle bildete sich ein Kloß. »Hat man dir keine Manieren beigebracht, oder hast du die Sprache verloren?« »Äh, entschuldigen Sie bitte vielmals, ja, ich habe mich verlaufen, oder besser gesagt, mir ist etwas Schlimmes passiert, und nun weiß ich nicht, was ich tun soll.«
Plötzlich brach es aus mir hervor, und ich berichtete von den Vorkommnissen der vergangenen Stunden. Bei den schlimmsten Stellen begann ich wieder zu zittern und konnte auch das Weinen nicht unterdrücken.

Alle hörten mir ohne Unterbrechung zu, bis ich endlich mit meiner Geschichte fertig war. »So, so, dein Onkel Benno also hatte dir vom Foyer berichtet, hä? Die Geschichte über den guten Herrn Schuster stimmt übrigens. Ich war selbst dabei, als es ihn erwischte.«
Bruno bemerkte mein Staunen und lachte. »Tjaja, dein Onkel und ich waren mal sehr gute Freunde, wir waren zwei richtige Schwerenöter. Das halbe Hotel hatte Angst vor uns. Doch dann beschloß er, mit seiner Sippe in den sechsten Stock zu ziehen, weil hier nicht mehr genug Platz für alle war. Aber das muss lange vor deiner Geburt gewesen sein.« Bei dem Gedanken, dass dieses Männchen meinen Onkel Benno kannte oder gekannt hatte, spürte ich wieder heiße Tränen in meinen Augen brennen. Mike sah mir meine Verzweiflung an. »Komm«, sagte er, wobei er Bruno fragend ansah, der ihm daraufhin unmerklich zunickte. Er knuffte mir sanft in die Seite, »Gehen wir erst einmal was Essen«. Bei den Worten regte sich wieder mein Magen. Schließlich hatte ich heute noch gar nichts gegessen, und zum ersten Mal seit Stunden wich meine Verzweiflung ein bisschen. Mein attraktiver Begleiter – Mike sah wirklich nicht schlecht aus, hatte nicht zu schöne, sondern eher markante Gesichtszüge – brachte mich in eine ruhigere Ecke, weitab von der Gruppe, die nun weiter an ihrem Apfel schmatzte. »Hier, ist zwar nur ein Stück Butterbrot ohne Wurst, aber immerhin fast noch frisch«. Ich hätte alles verschlungen. Wir standen nebeneinander und ich beobachtete ihn heimlich aus den Augenwinkeln. Gute Essmanieren hatte er. Außerdem feine, aber starke Gliedmaßen, und auch sonst fand ich ihn sehr ansehnlich und nett.

Nach dem Schmaus sah die Welt nicht mehr ganz so aussichtslos aus. Ich begann in Ruhe über mein weiteres Vorgehen nachzudenken, wobei Mike mir aufmerksam zuhörte.
»Also, klar ist, dass ich nicht zurück kann. Ich kann doch nie wieder meiner oder gar Susies Mutter unter die Augen treten und beiden von meinem unglaublich verantwortungslosen Verhalten erzählen. Man würde mich verstoßen«. Mike nickte zustimmend.
Die Regeln waren diesbezüglich streng: durch mein Verschulden war Susie gestorben, somit stand meine Familie ein Leben lang bei Susies Familie in der Schuld. Entweder würde man mich alleine oder sogar meine Eltern und Geschwister aus der Gemeinschaft ausstoßen, ohne Alternativwohnraum für uns. Das würde der sichere und schnelle Hungertod bedeuten. Das durfte ich meiner Familie nicht antun. »Was soll ich bloß machen, wo soll ich denn hin?« Verzweifelt schaute ich Mike an. »Nun«, setzte er an, »ich hätte da vielleicht so eine Idee«. Hoffnung keimte in mir auf. Ich sah in seinen Augen einen Hauch von Abenteuerlust.
»Ja?« fragte ich schüchtern.
»Es ist so: Bruno weiß nichts davon, aber ich plane schon seit einiger Zeit, mir ein eigenes Revier zu suchen. Bisher jedoch fehlte mir der Mut. Und die richtige Begleitung«. Er neigte leicht den Kopf und rückte ein Stück an mich heran. Mein Herz klopfte bis zum Hals, diesmal aber nicht hart und angsterfüllt wie vor ein paar Stunden, sondern – irgendwie – anders.
»Und wo willst du hin.«
»Fort von hier, raus aus diesem armseligen Hotel, wo kaum ein Brosamen für uns abfällt, weil alles ständig gereinigt und gewischt wird. Draußen soll es eine Welt voller Möglichkeiten geben, mit Essensresten an jeder Ecke und Müllkippen so hoch wie dieses Foyer hier, wo man sich tagelang durchwühlen kann.« Mikes Augen glühten und seine Fühler versteiften sich vor Aufregung.
»Es soll tatsächlich Orte geben, wo wir völlig frei und ohne Verfolgungsangst sein können, obwohl dort auch Menschen leben! Die scheren sich da keinen Deut um uns. Und Artgenossen in allen Farben und Größen. Alle leben in Frieden und Harmonie zusammen.«
Er hielt einen Moment inne, schaute mir direkt in die Augen und sagte: «Claudia, wir kennen uns erst wenige Momente, aber ich muss es dich fragen: Würdest du mit mir kommen? Zusammen könnten wir diese wunderbare Welt entdecken und eine Familie gründen.« Es war wie ein Wunder. Dieser schreckliche Albtraum wendete sich und wurde so schön und verheißungsvoll, dass ich es kaum glauben konnte. »Ja«, hauchte ich leise, »ich komme mit dir.«

Wenn auch diese Entscheidung sehr plötzlich fiel, so waren wir beide uns unserer Sache ganz sicher. Wir gingen rüber zu den anderen, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen. Bruno grinste wohlwollend. »Du Schlingel«, sagte er zu Mike, »ich hatte schon seit einiger Zeit so meine Vermutung, aber dass du dir für dieses Unterfangen ein so hübsches Mädel angeln würdest, hätte ich dir gar nicht zugetraut.« Mike lachte erleichtert. Bruno war für ihn mehr als eine reine Respektfigur, denn Mike hatte seine Eltern früh verloren. Alle aus der Gruppe wünschten uns viel Glück.

Mike hatte mir genaue Instruktionen gegeben. Nun trappelte ich hinter seinem breiten Rücken genau an der Teppichkante entlang, bis wir zur gläsernen Drehtür kamen.
»Eins, zwei, drei«, zählte Mike leise für uns beide, damit wir den Drehrhythmus in uns aufnahmen, und dann rannten wir schnell hindurch. Es war schon Abend, nur wenige Menschen gingen ein und aus. Und das hieß: wenige Schuhe. Völlig konzentriert, mich immer hinter Mike zu halten, bemerkte ich erst jetzt, dass wir es geschafft hatten.
Wir standen draußen auf dem Bordsteig. Ich schaute über die linke Schulter und sah an der schlossähnlichen Sandsteinfassade mit den vielen Erkern ein dunkelblaues, glänzendes Schild, auf dem in goldenen Lettern »Belle Escapade« prangte, darunter fünf Sterne. Nie wieder wollte ich so ein Hotel betreten! Diese Zeit lag nun hinter mir. Nein, hinter uns.
Mike drehte sich um und lächelte mich zärtlich an: «Na, Schönheit, in welche Richtung möchtest du denn? Du entscheidest.«

Alma Luis

Das meinen die Leser

 

»Gerade hab ich die neue Escapade gelesen – Chapeau!« Gunda W.

»Habe gerade eine leichte Erkältung und zur Erholung in der neuen Eskapade geblättert. Fand ich sehr stimmungsvoll und könnte mir gut vorstellen, dass es ein paar Escapade-Folgen einmal gedruckt geben könnte. Mit solch schönen Fotos und Texten. Und warum nicht: einem stimmungsvollen Kochrezept – und einer Duftprobe im Heft?« Sabine F.

»Vielen Dank für die neue Eskapade, sie hat mich über die gerade fallenden Schneeflocken hinweggetröstet« Petra T.

»Super, super, super, hat mir sehr gut gefallen. Dieses Mal hab ich doch glatt die gesamte Mittagspause nutzen können, um alles in Ruhe zu lesen. Genial die Lebenserfahrung aus Barcelona, kein Stück übertrieben, voll realistisch!« Melina J.