Editorial

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

wir sind zurück. Und ziehen gleich weiter. Natürlich nach Brasilien…
Natürlich nach Rio. Lasst Euch mitnehmen.
Bars. Bikinis. Bossa Nova.
Von hier aus in die Ferne.

Eure,
Silke Vogten und Flora Jörgens

Foto: Rio.Von Dirk Moll

Brasilien

Das Taj Mahal aus Rio

Amazonas-Delta-Blues aus Rio de Janeiro? Eine Hymne an ein Gebäude? Als Jorge Ben 1972 in Kleine-Leute-Viertel Rio Comprido einen Song komponiert, klingt das Ergebnis wie die Verwechslung von „indisch“ mit „indianisch“. Er nennt den Titel „Taj Mahal“. Und hat dabei seine Technik, die Gitarre nur mit Daumen und Zeigefinger zu spielen, perfektioniert. Sein großer Hit „Mas que nada“ ist da bereits neun Jahre alt. „Die Bossa Nova-Harmonien waren mir zu kompliziert, und ich konnte sie nicht nachspielen.“
Deshalb erarbeitet sich Jorge Ben im Zweifinger-System einen eigenen Sound, und auch sonst ist Vieles ungewöhnlich an seinem „Rhythm’n’Samba“. Mit Versmaß und Rhythmus macht Jorge Ben was er will. Manchmal streckt er die Melodie, um noch eine Textpassage unterzubringen; dann wieder ist der Text zu kurz, und der Sänger dehnt eine Silbe über mehrere Noten. Oder er singt einfach mal nur Vokale - wie einen Abzählreim.
Die Originalversion von „Taj Mahal“ 1972 ist in dieser Hinsicht eine Spar-Version, sie hat nämlich gar keinen Text - nur drei Worte: „Taj Mahal“ und „Kharma“, das können auch Kinder mitsingen, selbst wenn sie noch nie vom indischen Grabmal oder der Wiedergeburt gehört haben.
Diese Text-Armut ist jedoch kein Zeichen für mangelnden Einfallsreichtum des Komponisten. Sondern ‚sinnvoller Nonsens’. Jorge Ben vermeidet damit jedes politische Risiko: als er das Lied singt, haben schon viele Musiker das Land verlassen. Seit 1968 hatte das brasilianische Militärregime Zensur und Repression verstärkt.
Jorge Ben hätte langst Gelegenheit gehabt, Brasilien zu verlassen. 1964 war er mit dem Musiker Sérgio Mendes in die USA aufgebrochen, die Tournee hatte sie unter anderem nach Kalifornien geführt. Der Autor Ruy Castro schreibt in seinem Buch „Bossa Nova“:
„Jorge Ben fühlte sich in Los Angeles nicht besonders wohl. Um bessere Laune zu bekommen, wollte er sich die Haare schneiden lassen. Er fand einen Friseur in der Vine Street und ging hinein. Der Laden war leer, und die beiden Friseure, Kämme und Scheren in der Jackentasche, lasen Zeitung. Jorge setzte sich unbekümmert auf einen der Stühle, sagte: ‚Haare schneiden und rasieren’ und wartete ab. Die beiden weißen Friseure wechselten einen Blick, sahen Jorge an und dann wieder einander. Erst als einer von ihnen nuschelte: ‚Wir sind beschäftigt’, wurde Jorge bewusst, dass er Mulatte war. Er verließ den Laden, ging direkt zu Varig und kaufte sein Rückflugticket.“
Sérgio Mendes hingegen blieb in den USA und machte Jorge Bens „Mas que nada“ 1966 zu einem Welterfolg. Der Komponist aber kehrt zurück nach Rio Comprido, im Rücken der Berge hinter Copacabana, damals abgetrennt durch eine Überführung.
Es ist ein Viertel, in dem sich Gegner des Regimes verstecken. Jorge Ben singt über kleine Gauner, Alchimie und Raumfahrt, also eine skurrile Themenauswahl. Jedoch ganz offensichtlich politisch harmlos.
1970 gerät der Komponist dann doch noch ins Visier der Zensoren. Nicht als Einziger: für das „Internationale Festival des Liedes“ in Rio werden 25 Finalisten von der Zensur aus dem Wettbewerb genommen – 25 von 36. Die Interpreten des Jorge Ben-Songs werden sogar von der Bühne weg verhaftet. Allerdings nicht aus politischen Gründen. Sondern, weil der Text, in dem es inhaltlich um Rückenmark geht, von den Background-Sängerinnen angeblich zu lasziv interpretiert wird. Jorge Ben selber bleibt weiter unbehelligt. „Fio Maravilha“, ein Song über einen Fußballer und Volkshelden wird 1972 von der Zensur genehmigt und ein Riesenhit.
„Taj Mahal“ bekommt später noch einen harmlosen Text über eine indische Prinzessin und wird von Jorge Ben über die Jahre in verschiedenen Versionen aufgenommen.
1978 kommt es Tausende von Kilometern entfernt zu einem Vorfall: Rod Stewart nimmt das Lied „Da yo think I’m sexy?“ auf.
Der Titel wird ein Millionenhit, Platz 1 in den USA, Großbritannien und zahlreichen anderen Ländern. Allerdings sind auffällige Anleihen aus „Taj Mahal“ unverkennbar. In seiner 2012 erscheinenden Biografie schreibt Rod Stewart dazu freimütig:
„In flagranti ertappt! Was ich auch umgehend zugab.Natürlich hatte ich nicht im Studio gestanden und verkündet: „Passt mal auf Jungs: Wir verwenden diese Melodie von Taj Mahal im Refrain - und ab dafür! Der Songschreiber lebt in Brasilien, wird also überhaupt nichts mitbekommen.“ Aber ich war tatsächlich 1978 zum Karneval nach Rio gefahren, zusammen mit Elton und Freddie Mercury. Und dort passierte zweierlei: zum einen hatte ich mich hoffnungslos in eine brasilianische Filmschauspielerin verguckt, die sich aber als lesbisch entpuppte und mich nicht ranließ – und zum anderen hatte ich Jorge Bens Taj Mahal gehört, das damals überall lief.“
Rod Stewart zahlt reumütig die Tantiemen an den Brasilianer aus und gibt sogar UNICEF von seinen Erlösen ab. Jorge Ben kann fortan machen, was er will, denn das Gesetz Nr. 5, das den Ausnahmezustand herstellte, tritt am 31.12.1978 außer Kraft. Er nennt sich mittlerweile Jorge Ben Jor, schreibt unter anderem zwei Lieder über brasilianische Vorkämpfer gegen Rassismus und macht aber eigentlich weiter das, was er immer macht: gute Laune-Musik.

Flora Jörgens

Foto: Rio. Von Dirk Moll

Brasilien

Ipanema gestern und heute

Arnaldo Bichucher schwitzt. Er reißt eine Papierserviette aus dem Spender und wischt sich damit übers Gesicht. Sein Blick schweift zu den klapprigen Deckenventilatoren, die träge vor sich hin surren.

„Klimaanlage hin oder her“, sagt er, „ich finde, dass man hier gewesen sein muss. Erstens weil dies eine typische Carioca-Bar ist. Sehr informell, sehr laut, wie man hört, mit halb offenen Fenstern und Kontakt zur Straße. So was mögen wir.“ Arnaldo grinst. Der Fernsehjournalist ist ein Carioca, wie die Einwohner von Rio de Janeiro genannt werden: geboren in Copacabana, aufgewachsen nebenan in Ipanema. Er sitzt in der ehemaligen Bar Veloso, die heute Garota de Ipanema heißt, nach dem weltberühmten Lied „The girl from Ipanema“, dessen bekannteste Version João Gilberto, das große Genie der brasilianischen Popmusik, mit seiner damaligen Frau Astrud und dem amerikanischen Saxofonisten Stan Getz im Jahr 1964 aufgenommen hat.

Mit den kleinen, blauweißen Mosaikkacheln und den schweren Möbeln aus Eichenholz strahlt das Garota de Ipanema den Charme einer vergangenen Epoche aus. Das Publikum ist bunt gemischt: Geschäftsleute beim Business-Lunch, Nachtsschwärmer beim Frühstück, junge Männer, die bei einem Cocktail den Tag verträumen. Und viele Touristen. Arnaldo nimmt den Faden wieder auf. „Und man muss wegen Helo Pinheiro hier gewesen sein. Sie ist die Muse des Songs. Als junges Mädchen ist sie hier fast jeden Tag vorbeigekommen, auf dem Weg zum Strand oder zurück.“ Und hier, wo er jetzt sitzt, müssen auch sie damals gesessen haben: der Komponist und Pianist Antonio Carlos Jobim, den alle nur Tom nannten, und der Diplomat und Poet Vinícius de Moraes. Beides Liebhaber edler Whiskys und schöner Frauen. „Und nun,“ fährt Arnaldo fort, „schließ’ die Augen und stell es dir vor: dieses betörende Mädchen auf ihrem Weg zum Strand: ihr Hüftschwung wie ein Samba, ihr Körper vergoldet von der Sonne Ipanemas.”

Im Garota de Ipanema sollen Vinícius de Moraes und Tom Jobim das Lied geschrieben haben - auf einer Papierserviette. Arnaldo zieht eine aus dem Spender auf dem Tisch, seufzt bedauernd, als wollte er wen auch immer um Entschuldigung dafür bitten, dass er sie für etwas Profanes benutzt, und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Tatsächlich hat Jobim die Melodie in seinem Haus geschrieben, zwei Straßenblöcke entfernt. Und de Moraes den Text in seiner Villa in Petrópolis. „Aber entstanden ist es hier,“ beharrt Arnaldo, „als Idee, inspiriert von Helo Pinheiro.“

Neben der Bar ein Laden für Strandmode vorwiegend Bikinis. Sie bestehen nur aus Stofffetzen, die selbst für brasilianische Verhältnisse winzig sind. Das Geschäft heißt ebenfalls Garota de Ipanema und gehört eben jener Helo Pinheiro. Vor paar Jahren hat sie es eröffnet, um, wie sie es in einem Interview ausgedrückt hat, auch etwas vom Kuchen abzubekommen. Seitdem prozessiert sie mit den Erben von Tom Jobim und Vinícius de Moraes um die Namensrechte. Helo Pinheiro, eine gebürtige Carioca, lebt seit vielen Jahren in São Paulo. Arnaldo schnauft verächtlich: „Kann nur wegen etwas Geschäftlichem sein. Wenn du Geld machen willst, geh nach São Paulo. Aber Lebensqualität findest du nur in hier.“

In Ipanema hat man den Eindruck, das Lied sei auch 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung allgegenwärtig. Kein Wunder, denn es repräsentiert die Bossa Nova, einen Musikstil, der Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in Rio de Janeiro entstanden ist. Die Bossa Nova wiederum bringt das Lebensgefühl der Cariocas auf den Punkt, diese Mischung aus Lässigkeit und Eleganz, das Ganze sexuell aufgeladen, aber immer leicht und verspielt. So jedenfalls sieht das Carlos Afonso, ein Mann mit weißen, widerspenstig abstehenden Haaren und einem Teint, der alles ist, nur nicht vergoldet von Sonne Ipanemas. Carlos Afonso betreibt einen Plattenladen, die Toca de Vinícius. Der Name, übersetzt: Vinícius’ Plattenspieler, ist Programm: Bei Carlos gibt es nur Bossa Nova zu kaufen, auf CD und Vinyl, dazu Filme und jede Menge Bücher. Seine Vorträge gibt es gratis: „Das Besondere an der „Garota de Ipanema“ ist die Produktion. Das Lied ist über fünf Minuten lang. So viel Zeit bräuchte es gar nicht. Warum also? João Gilberto, Astrud Gilberto, Stan Getz und Tom Jobim führen uns hier vor, was Bossa Nova ausmacht.“

Wenn Carlos Afonso spricht, richtet er den Blick in die Ferne. Seine Worte untermalt er mit ausladenden Armbewegungen, und die Lautstärke seines Vortrags reicht aus, um einen Hörsaal zu beschallen. In seinem ersten Leben war Carlos Afonso Literaturprofessor an der PUC, der katholischen Universität von Rio de Janeiro. Sein zweites Leben hat vor ziemlich genau zwanzig Jahren begonnen, als er beschlossen hat, seine Leidenschaft für die Bossa Nova zum Beruf zu machen. Er schiebt eine CD ein. „Tom Jobims Piano – er spielt nur das Nötigste. Die Stimmen von João und Astrud – nur gehaucht. Der Gesang steht nicht mehr im Mittelpunkt, sondern die Musik als Ganzes. Der Gesang ist nur ein weiteres Instrument.“

Dabei müssen die Plattenaufnahmen die Hölle gewesen sein. João Gilberto und Stan Getz waren sich auf Anhieb unsympathisch, und dass Astrud den englischsprachigen Text singt, hat niemand gewollt, außer ihr selbst. Dazwischen: Tom Jobim als Mittler. „Aber der Platte,“ schließt Carlos seinen Vortrag, „hört man diese Animositäten nicht an.“

Foto: Rio. Von Dirk Moll

Die Toca de Vinícius liegt an einer verkehrsreichen Geschäftsstraße. Es wird gedrängelt und gehupt, Fußgänger hasten von Einkauf zu Einkauf. Zu Zeiten der Bossa Nova standen hier fast nur Einfamilienhäuser. Der Immobilienboom setzte erst Ende der 60er Jahre ein, initiiert eben durch das „Girl from Ipanema“ und die Träume und Sehnsüchte, die es weckte. Heute ist Ipanema ein bevorzugtes Wohnviertel, entwickelt, mit allem, was eine betuchte Klientel wünscht: mit guten Restaurants, edeln Boutiquen, hippen Bars - und einem traumhaften Strand.

Über die Praia de Ipanema spannt sich ein makellos blauer Himmel. Wellen rollen heran, gerade hoch genug zum Surfen, aber nicht zu riesig zum Schwimmen. Klappstuhl steht an Klappstuhl, Handtuch liegt an Handtuch. „Das lieben wir Cariocas“, erläutert Arnaldo, „diese Nähe und Enge.“ Und überhaupt: Das Strandleben in Rio de Janeiro im Allgemeinen und in Ipanema im Besonderen folgt festen Regeln, die zwar nirgends formuliert sind, diese Mühe würde sich ein Carioca nie machen, die aber trotzdem von den meisten befolgt werden.

Es fängt damit an, dass kaum jemand liegt. „Wahrscheinlich ist Ipanema der einzige Strand der Welt, wo die Leute die ganze Zeit stehen,“ witzelt Arnaldo. „Für uns geht es am Strand darum, zu sehen und gesehen zu werden. Während ich mit dir rede, lasse ich meinen Blick umher schweifen, ich checke, was um uns passiert. So machen das alle hier.“ Flipflops, Badehose, Sonnenbrille, vielleicht noch einen Hut – mehr nimmt ein Carioca nicht mit. Geldscheine knotet er um die Kordel seiner Badehose. Wer am Strand liest, hat sich schon als Tourist geoutet.

Vor allem aber geht man dort zum Strand, wo man seinesgleichen trifft. Arnaldos Ziel ist Posto Nove, Turm Nummer 9 der Rettungsschwimmer, der legendäre Treffpunkt der Bossa-Nova-Musiker und später, nach dem Militärputsch von 1964, der Dissidenten, der Unangepassten und Querdenker. Bis heute lässt sich hier sehen, wer sich für modern und progressiv hält. Am Posto 8, wo die Regenbogenfahne weht, genießen vorwiegend Schwule und Lesben die Sonne Ipanemas, am Posto 7, kurz vor dem Felsen von Arpoador, wird gesurft. Dahinter beginnt Copacabana. Posto 6 ist lange der Treffpunkt für Sextouristen gewesen. Dort stand das Help, eine übel beleumundete Diskothek, die auch in der Affäre um die Incentive-Reisen von Betriebsräten des VW-Konzerns im Jahr 2005 eine Rolle gespielt hat. Seit das Help vor drei Jahren geschlossen wurde, ist die Szene zum sehr überschaubaren Rotlichtbezirk um den Posto 2 abgewandert. Dazwischen, von Posto 5 bis 3, ist das Revier der Freizeitsportler, mit Fuß- und Volleyballfeldern, komplett mit fest installieren Toren und Netzen.

An einer Strandbude am Posto 9 flattert die Flagge Uruguays. Die Bude gehört Milton González, einem kleinen Mann mit eisgrauen Haaren, dickem Walrossschnauzer und kugelrundem Bauch, von allen nur O Uruguaio genannt. Er selbst bezeichnet sich als Uruioca, als Carioca mit Wurzeln am La Plata. Milton ist vor über 30 Jahren nach Rio de Janeiro geflüchtet. In Montevideo herrschte das Militär, als Gewerkschaftler und Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Uruguays war er verfolgt und gefoltert worden. Seitdem verkauft er belegte Brote und eisgekühlte Getränke und verleiht Liegestühle und Sonnenschirme. In einer Stadt, in der das Thermometer auch im Winter nur selten unter 20 Grad sinkt, ist das ein lukratives Geschäft. Aber darum geht es nicht, sagt Milton. Es geht um das Leben am Strand. „Der Strand ist der demokratischste Ort auf Erden. Hier trifft die Prostituierte auf den Rechtsanwalt, der Arbeiter auf den Arzt.“ Und was den Posto 9 angeht: „Alles, was neu und interessant ist, betrifft nicht nur in Rio, sondern das ganze Land, das meiste zumindest entsteht hier. Von hier geht’s nach Copacabana und weiter ins Land.“

Foto: Fischteller. Von Tom Noga.

In Ipanema sind Modetrends wie der Microbikini und die Canga entstanden, ein dünner Wickelrock, der auch als Strandtuch benutzt werden kann. Hier wird für die Liberalisierung von Marihuana und gegen Homophobie demonstriert. Hier hat die Karriere des Sängers und Schauspielers von Seu Jorge begonnen, der als Jugendlicher drei Jahre lang am Strand von Ipanema gelebt und in Miltons Strandbude ausgeholfen hat. Die Clique um die Popmusiker Caetano Veloso und Gilberto Gil hat sich hier getroffen, die Begründer des Tropicalismo, eines Musikstils, der Bossa Nova mit der Rockmusik der 60er Jahre verbunden hat. Gilberto Gil ist später unter Ex-Präsident Lula Kultusminister geworden. Lula selbst hat hier eine Wahlveranstaltung abgehalten, ebenso Dilma Rousseff, seine Nachfolgerin im Amt. Und dass es ihn, Milton González aus Montevideo, hierhin verschlagen hat, ist eine dieser seltsamen Wendungen, die das Schicksal manchmal nimmt. Wenige Tage vor seiner Flucht hat er Vinícius de Moraes auf der Bühne des Parador del Cerro in Montevideo gesehen und sich nach Ipanema geträumt. „Seine Musik hat mich also hierher geführt.“

Natürlich, es hat sich viel verändert seitdem. Und es ändert sich ständig. Rio de Janeiro putzt sich heraus für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele zwei Jahre später. Auf der Promenade wird gebaut. Nach und nach verschwinden die alten Holzbuden der Getränkeverkäufer. Sie werden durch neue Pavillons mit lindgrünen Dächern ersetzt. Und am Strand gelten neuerdings Regeln, was viele Cariocas entrüstet. Fliegende Händler müssen sich registrieren. Wildes Pinkeln, lange Zeit eine Art Naturrecht maskuliner Cariocas, wird rigoros geahndet. Wer erwischt wird, zahlt 300 Reais Strafe, gut 100 Euro. Grillen ist verboten, auch das Zubereiten von Sandwiches – Milton zuckt mit den Schultern: Na und, dann schmiert er die Brote eben zu Hause, verpackt sie luftdicht und gekühlt, wie vorgeschrieben.

Abends auf dem Arpoador, dem Felsen, der zwischen Ipanema und Copacabana in den Atlantik ragt. Ein paar hundert Menschen haben sich hier versammelt, wie üblich nach einem Strandtag. Sie reden, lachen, trinken, essen. Von irgendwo erklingt ein Lied. „Corcovado“, auch von João Gilberto und mehr noch als das „Girl from Ipanema“ eine Liebeserklärung an Rio de Janeiro: „Ein Liedchen, gespielt auf einer Gitarre“, heißt es darin. „Es macht jeden glücklich, der es liebt. Viele Ruhe zum Nachdenken und Zeit zum Träumen. Am Horizont die Christusstatue auf dem Corcovado.“ Dahinter geht gerade die Sonne unter. „Weißt du“, räsoniert Arnaldo Bichucher: „Wäre die Welt wie die Bossa Nova, sie wäre perfekt.”

Tom Noga

Autor Tom Noga, Jahrgang 1960, war dieses Jahr schon zweimal in Brasilien. Es herrschte Hochsommer, als er im Februar am Strand stand. Nicht lag! Horst Jörgens, Jahrgang 1935, fotografierte VW-Bus und Käfer 1973. Für diese Familienreise nach Rio musste der Chemiefacharbeiter mehrere Monatslöhne ausgeben. Seine Tochter hörte damals "Fio Maravilha" im Radio und fahndete fast 20 Jahre nach dem Interpreten. Dirk Moll, Jahrg. 1970, ist Fotodesigner und lebt mit seiner Familie in Köln. Auch ihn führte es nach Rio de Janeiro, seine hier gezeigten Fotos stammen aus dem Jahr 2008. Mehr Infos und Portfolio unter www.Dirkmoll.de

Foto: Strasse. Von Horst Jörgens