Editorial

 

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

„offen sein“ – wie oft ist das bei uns schon angemahnt worden? „Sei doch mal offen“... dieser sanft lächelnde Imperativ, hängt er Euch nicht auch absolut zum Hals ‘raus??

Und wofür offen sein? Für Kritik? Für eine „Beziehung“? (Noch so ein Wort, das wir nicht mehr hören wollen! Auch die „offene Beziehung“ kann da nix mehr retten!) Offen für den nächsten Anschiss? Oder fürs Mantrasingen zur Harfe??

Schluss damit! In diesem Monat sind wir: ZU! Und zwar so was von! Bis hierher: zu! Zu - mit allem. Zu – GESPERRT. Achim Wigand kommt immer nach der Sperrstunde, außerdem ist Julia Torres zu spät, zu kalt, zu Hause. Zue Fotos von Dirk Bannert, HJ Bremen, Bert Schmidt.

Diese Zeilen schreiben Euch bei zuem Fenster

Eure,
Flora Jörgens und Silke Vogten

Foto: Zu auf Englisch von HJ Bremen

ZU!

Schon zu

Die wahrscheinlich beruhigendste Wortfügung der Neuzeit: "Hier ist schon zu", resp. "hammaschozu" (ja, dieser Text wurde in München geschrieben), resp. auch gerne umgangsprachlich in spezifisch deutscher Höflichkeit auf "Zu!" verkürzt; gerne auch durch eine Glasscheibe geplärrt, begleitet von einer Handbewegung, die die Altsportfans unter uns unweigerlich an den weiland unvermeidlichen Jupp Kompalla erinnert.
Bedeutet die Zu!-Permutation doch Erlösung von repräsentativen und zivilisatorischen Pflichten:
Vier Wochen lang nur den billigsten Rohmilchkäse gekauft, kein Filet vom oberbayrischen Weideochsen und auch nur das allernötigste Quantum Stopfleberpastete, also gedarbt und gespart und deshalb ist sie heute fällig, die neue Aufschnittmaschine. Allerdings hat der Laden mit dem zentnerschweren Metzgerzubehör weichen müssen für einen beschissenen Blumenladen und ist deshalb: Zu. Egal, die Küche ist eh schon zu voll.
Oh, Küche: Wo jetzt nicht mehr gespart werden muss, kann es ja wieder losgehen. Für die Jakobsmuschelorgie ist es jetzt aber schon zu spät, deshalb simple Proteinzufuhr. Die Nudeln irgendwie mit Gemüse oder doch mit Hackfleisch? Scheißegal, beides nicht im Kühlschrank und die gepiercte Auszubildende vom Supermarkt unten im Haus hat mit schmolligem Debilmund eben gerade die Automatiktür deaktiviert. He, 19 Uhr 56, du Presswurst. Nutzt nix, Zu! Aber egal, wollten wir nicht eh weniger essen? Und dann gibt's heute halt nix.
Kurz nach Hause, vor den leeren Schränken geweint und dann festgestellt, dass Kapitulation zwar eine Lösung, aber keine akzeptable ist, muss jetzt ordentlich Alkohol her.

Leider zu lange über die miserable Vorratshaltung geheult und erwartbar schnöselt der gepiercte (schon wieder? Ohne gelochten Körper ist der junge Dienstleister heute wohl nicht mehr tragbar) Dilettant hinter der Bar "mir ham schon zu" und die Frage, ab man sich noch endgültig mit mies gemixtem Gin Tonic ins Koma schießen sollte, ist gegenstandslos. Die Iwan's Bar, wo es den besten Gin Tonic, diesen silbrig schwappenden See der Glücksseligkeit, hat natürlich: Zu. Leider dauerhaft. Ersetzt durch eine weitere unnötige Hipsterbar mit Surfmotiven an den Wänden. Nie mehr Hendrick's auf Gurke.
Deshalb in die Trinkhalle. Leider sind wir in München, und da gibt es diese Kulturleistung überhaupt nicht, und deshalb muss es halt der Kiosk um die Ecke sein, aber der hat, ach nee, zu. Teufel, warum gönnt mir keiner meine Pfundshepatitis? Und warum machen hier die Dönerbuden alle schon um neune: Zu?
Dann muss es halt eben doch die Stammkneipe sein, aber die hat: schon zu. Was für ein Glück, denn die zartgliedrige blonde Pächterin lässt mich natürlich trotzdem noch rein und da ja schon: Zu! und deshalb dürfen wir saufen und vor allen Dingen rauchen bis zur Nahtoderfahrung. Und die überaus schnucklige Thekenmaus mit den theaterwissenschaftsroten Haaren hat endlich einmal Zeit sich endlos zutexten, äh, Zu!-texten zu lassen und als dann Grit den Laden endgültig zuschließt haben die ersten Metzgerkneipen um den Schlachthof schon wieder offen, wir kaufen Roastbeef zu Discounttarifen, belegen mit dem knappst Gebratenen dick die frischen Brötchen und während uns noch eine Spur frischen Rinderbluts das Kinn hinunterläuft, vögeln wir uns in den noch frischen, aber doch schon voraussehbar gebrauchten Tag hinein. Gut, dass schon zu war.

Achim Wigand

Achim Wigand schreibt Reiseführer und schleust Reisegruppen durch München, die regelmäßig an der Aussprache seines Vornamens scheitern. Bei „tripadvisor“-Reviews wurde er sogar schon als Ockham bezeichnet, dabei ließe er sich ein slawisch angehauchtes Achimtschik gefallen. Oder Abu Ben Ach im (bei dem man förmlich die Ölquellen sprudeln hört) oder einen eleganten Don Aquimo. „Hendrick’s auf Gurke“ lt. Achimus Wigandus „ein ganz hervorragender Gin mit sehr starker Wacholdernote aus der Grant-Destillerie (nicht billig, so 30€ pro Flascherl, aber schlägt den Bombay Sapphire um Längen) und der harmoniert ganz besonders mit Gurke; d.h. eben kein Zitronenschnitz drin, sondern ein Streifen Gurkenschale“.

Foto: Handyfoto, ohne Titel von Bert Schmidt

ZU!

Zu spät

ZU SPÄT will zu viel
besserwisserisch
verlangt es ein Ziel

Nach dem Schlußstrich
Mitleid mit sich
ZU SPÄT ekelt mich

Julia Torres

ZU!

Zu kalt

Bläst der Wind den Winterstahl
mir um Nas und Ohren
steh ich vor der Winterqual
mir das Popel bohren
bis auf Weiteres zu versagen
inkl. Fingernagel nagen

Julia Torres

Foto: Mülltonnen auf La Palma von HJ Bremen

ZU!

Zu Hause bleiben

Kennt Karin die Kanaren?
Weiß Walter was von Washington?
Wird Fritz nach Finnland fahren?
Ich bleibe hier, da war ich schon.

Julia Torres

Julia Torres ist Schauspielerin. Jedes Gedicht von ihr ist: ein Gedicht! www.juliatorres.de Fotograf Hermann-Josef Bremen lebt in Köln, hatte früher hauptsächlich mit Bewegtbild zu tun, widmet sich heute am liebsten „stills“. Bert Schmidt aus Frankfurt ist Dokumentarfilmer und Cutter, fängt mit seinem Handy en passant Merkwürdiges ein. Dirk Bannert fährt vom Niederrhein aus als Fotograf in die Welt, zufällig war er gerade da, wo HJ Bremen auch geknipst hat: auf La Palma. www.foto-bannert.de

Foto: Küsse auf La Palma von Dirk Bannert