Editorial

 

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

schön frisch an den Start? Energiegeladen ins neue Jahr? Voller guter Vorsätze? Voller neuer Pläne? Voller…

Nee. Eher nicht. Der Januar kann uns. Alle erwarten was. Wir haben aber keine Lust. Denn jetzt fängt der Winter richtig an – und die Kerzen sind alle ausgepustet. Die Geschenke ausgepackt. Die Plätzchen aufgegessen. Mist.

Wir konnten den Januar noch nie so richtig leiden. Also Zeit für eine richtig schöne fiese Ausgabe, in der wir uns in Tristesse, Suizidgedanken und Mordgelüsten verlieren.

Zwei Meister der unverhohlenen Ab- und Auflehnung – Graphiker Rainer Resch und Wortakrobat Sam Schneiderwind – unterstützen uns mit Bildern und Worten.

Schaurig. Schrecklich. Trashig. Schräg. Der Januar hat’ s einfach mal verdient!

(Kleiner Trost: es kann nur schöner werden… Und kein Grund sich gleich umzubringen…)

Eure
Silke Vogten und Flora Jörgens

Bild: 'Killer', Acryl auf Leinwand, Silke Vogten

Morbidium suizidale

Kurze Gedichte zum Tod aus eigener Hand

„Ich schaff’s nicht“, seufzt das kleine Glied,
„komm nicht mehr hoch, mach Suizid.“

Der Schizo denkt beim Blick aufs Messer:
„Wär ich jetzt tot, wär alles besser.“

Der Papa hängt allein im Wald,
sein Kopf rotblau, der Körper kalt.

Sam Schneiderwind

Zeichnung: 'Hackl im Kopf', Kugelschreiber auf Papier, Rainer Resch

Morbidium suizidale

Scheiß Tag

Fremde Münder zerkauen Wörter
und spucken Sätze vor die Füße
Stumme Augen verweigern den Applaus
Fort – weit weg – hinaus

Doch die Bäume entziehen sich
gleich toten Theater Kulissen
Die mächtigen Häuser erdrücken
hässlicher noch als gestern

Ein Grau von schmierigem Grell
zwingt die Blicke zu senken
und in der zurechtgestutzten Erde
wohnt heute ein dunkler Magnet

Silke Vogten

Bild: 'Galgen', Acryl auf Leinwand, Silke Vogten

Morbidium suizidale

Noch mehr kurze Gedichte zum Tod aus eigener Hand…

Mama denkt beim Sprung von der Brücke:
„Wie hübsch ich gleich die Fahrbahn schmücke“.

Der Depri liegt stocksauer auf dem Gleis.
So eine Bahnverspätung ist schon scheiß.

Auch das passiert:
Peter baumelt gefesselt auf dem Boden
Da jucken ihm plötzlich tierisch die Hoden.

Sam Schneiderwind

Zeichnung: 'Hot Hot Hot', Kugelschreiber auf Papier, Rainer Resch

Rainer Resch, Jahrgang 1954, wurde in München geboren und lebt seit vielen Jahren in Köln, gerade in Wesseling. Er zeichnet und gestaltet – im Auftrag seiner Brötchengeber und anderer höherer Mächte. Seine Kugelschreiberzeichnungen entstanden teilweise bei Besprechungen oder beim Fernsehen und sind völlig ungeplant.

Morbidium suizidale

Ein letztes kurzes Gedicht zum Tod aus eigener Hand…

Zu früh gefreut:
Fast hätt’s geklappt mit dem Autoabgase,
da meldet sich die Sextanerblase...

Sam Schneiderwind

Sam Schneiderwind, 36, Redakteur, lebt in Düsseldorf. Im August 2011 hat Schneiderwind selbst einen Suizidversuch überlebt. Während seines Aufenthalts im Klinikum fand er einen ganz eigenen Weg, mit der traumatischen Erfahrung umzugehen: kurze Gedichte.„Suizid und Suizidgedanken sind alles andere als lustig“, sagt Schneiderwind. „Aber ich konnte das Erlebnis, beinahe aus eigener Hand gestorben zu sein, auf diese humorvolle Weise für mich am besten verarbeiten.“

Morbidium Kalendarium

The Beat Goes On

Ein Trauer-Büchlein, Geschenk meiner Freundin Moni, ließ mich Anfang 2011 (unpassenderweise?) jubeln. Aktuell ist es trotzdem, denn ihm wird jedes Jahr neues Leben eingehaucht: „The Beat Goes On – Kalendarium toter Musiker“, in der Größe eines Gebetbuchs und in schwarzes Leinen gebunden mit Lesezeichen-Bändchen.
Wobei sich die Frage stellen könnte: Warum ein Lesezeichen, wo es doch ein Kalender ist? Denn in der Regel schlägt man ja den jeweiligen Tag auf, schaut, was dann anliegt bzw. welche Termine man eingetragen hat.
Das funktioniert nun leider gar nicht hier, und deshalb ist das Lesezeichen wichtig. Denn flugs liest man fasziniert weiter, blättert Woche um Woche vor, und erfährt die interessantesten Dinge.
Denn, an einem ganz normalen Wochentag, wie etwa dem 5. Januar, ist irgendwann in der Vergangenheit irgendein Musiker auf spektakuläre oder weniger spektakuläre Art und Weise gestorben. Wie z.B.:
1998 Sonny Bono (*16.2.1935 als Salvatore Phillip Bono) Duettpartner und erster Ehemann von Cher („I Got You, Babe“), verdingte sich später auch als Schauspieler und Kongressabgeordneter /starb an den Folgen eines Skiunfalls (Grabinschrift „And the beat goes on“)
O.k., das wusstet Ihr? Dann gibt es aber noch drei interessante Tode zu vermelden, einer davon:
1976 Mal Evans (*27.5.1935 als Malcom Frederick Evans) Roadmanager der Beatles, der die Fab Four auf dem Albumtitel „Sgt. Peppers“ brachte, indem er naiv fragte, was es mit Buchstaben „S“ und „P“ auf den Gewürzstreuern auf sich habe / wollte sich umbringen und wurde von Polizisten erschossen, nachdem er die Waffe gegen sie richtete.
Gut, diese Stelle hätte ein bisschen Lektorat nötig gehabt, dann hätte es grammatikalisch korrekter auch „gegen sie gerichtet hatte“ geheißen. Ebenso ist nicht jeder „Death of the week“ ein musikjournalistisches Meisterwerk; einige dieser Einseiter erinnern sprachlich doch fatal an Gonzo-Epigonen, die im ganz frühen „Musikexpress“ kalauerten.
Aber wer bin ich, darüber zu richten? Alles in allem ist dieser Jahreskalender ein Muss für alle Musikfans, denen die Zeit zu schnell weg läuft. Mit toller Zugabe aus Statistiken, in dem in den Rubriken wie Krankheit / Verkehrsunfall / Mord und Totschlag seltsame Häufungen aufgelistet werden oder wundersame Einzelfälle: Flugzeugabsturz ...... 30 (davon Beechcraft.... 7); erwürgt..... 1; auf der Bühne erschossen.... 1. (Da hätte ich auf mehr Todesfälle getippt, auch Fans können ziemlich grausam sein.)
Natürlich ziemlich Männer dominiert, das Ganze: Einträge insgesamt 1356 und davon nur 133 Frauentode. Daran lässt sich redaktionell sicher noch arbeiten, aber vielleicht sieht es 2012 schon ganz anders aus. Ihr seht, ich hab’ noch keinen neuen Kalender. Gibt es bei Edition Observatör, Preis weiß ich leider nicht, war ja ein Geschenk. Hoffentlich nicht das letzte.

Flora Jörgens

Zeichnung: 'Froghand', Kugelschreiber auf Papier, Rainer Resch