Editorial

 

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

Tour de Ruhr – auf dieser Strecke sind wir in dieser und auch der nächsten Ausgabe unterwegs. Warum? Weil es hier so schön krude ist. Außerdem beschäftigt uns auch immer noch die einstige Frage eines Freundes aus dem fernen Badischen: „Ward ihr hier im Untertagekindergarten?“

Nein. Daran kann sich keiner erinnern. Aber an einiges andere, wie wir mit dieser Ausgabe beweisen. So geht es weit zurück in die Siebziger – diesmal in das häufig besungene Oberhausen – und zu einer Begegnung mit tragischen Gestalten wie Herrn August Mazurkewitz oder zu Fahrgästen in öffentlichen Verkehrsmitteln, die ihren Rachegelüsten freien Lauf lassen. Verbal versteht sich.

Der Fotograf Dirk Bannert, der in Oberhausen/Osterfeld (mehr geht nicht…) das Licht der Welt erblickte, traf im berüchtigten CentrO Ruhrgebietsnachwuchs in Bestform und in grüner Ruhrgebietsidylle ältere Semester.
Unterirdisch war nur der Weg zur Bahn.

Ankommen. Wegfahren. Ankommen.

Kommt mit.

Eure,
Silke Vogten und Flora Jörgens

Foto: Haltestelle Oberhausen Neue Mitte von Dirk Bannert

Oberhausen

Bus-Phantasien

Jimmi macht dat für Nüsse

Die Kulisse und die Requisiten:
Oberhausen
Stoag
Früher Morgen
Fahrgäste
Fusel

Der Gesang:
- Letztes Jahr hat ich noch 100.000
- Letztens hat ich auch noch 13.000

- Die hamse mich geklaut
- Die alten Wichspisser

Ham mich ausgeraubt
Töten könnt ich die
Aber ich geh zu dä Jimmi
Dä Jimmi besorgt mir zehn Türken

Mit die Türken ab zu die Wohnung
wo die Wichspisser wohnen
Tür auf. Reinballern. Fertich.
Dä Jimmi bezahlt die

Dä Jimmi kennt mich
Dä Jimmi macht dat für Nüsse

Silke Vogten

Foto: Shopping im CentrO von Dirk Bannert

Oberhausen

Begegnungen

August Mazurkewitz Teil I

Es gibt da einen alten Zeitungsausschnitt. Das vergilbte Papier zeigt einen Garten, einen alten Mann mit einem Hut, der sich über ein kleines Kind beugt. Das Kind sitzt in einem sehr kleinen Planschbecken und kneift die Augen zusammen, weil die Sonne es blendet. Der alte Mann begießt es aus seiner blechernen Gießkanne mit Wasser und man kann nicht erkennen, ob das Kind sich darüber freut oder nicht. Hinter den Beiden sieht man noch andere, einen Mann und zwei Frauen, eine alte und eine junge. Sie alle halten ihre Gesichter der Sonne entgegen. Unter dem Bild steht:
„Auch diese kleine Eva freut sich über den herrlichen Sommertag“.
(Zeitungsausschnitt aus WAZ-Oberhausen)

Zu den ersten Erinnerungen gehören der Garten und die Dachwohnung der Großeltern. Es war ein Garten in dem die Brechbohnen in den Himmel wuchsen. Wer hinauf kletterte, landete in den Wolken und winkte von oben herab auf die Erde. Nachts fuhren die Züge dicht am Fenster vorbei, dicht am Kopfkissen. Sie blieben nicht auf den Schienen, wo sie hingehörten. Das Geräusch der vorbeirasenden Züge in den Nächten, und die seltsame Sehnsucht, die es auslöste, die grünen Brechbohnen, und der Mann, der im Nachbarhaus immer so seltsam zum Fenster hinauslehnte: Dies war die Siedlung, in der sie einen Großteil ihrer frühen Kindheit verbrachte. Der Mann, der dort ein Haus weiter das Fenster bewohnte hieß August Mazurkewitz und alle sagten, er wäre ein schlechter Mensch. Er griff sich regelmäßig an den Kopf, wenn er ihre Mutter sah, auch ihren Vater, ihre ganze Familie eigentlich, die Großeltern eingeschlossen. Es störte sie nicht, er war ja da oben und kam niemals herunter. Er sprach auch nie mit ihnen. Er griff sich nur an den Kopf und zeigte ihnen allen schweigend den Vogel. Sie musste ihn immer ansehen, doch die Mutter zog sie mit eisernem Griff weiter. Ihr Gang wurde schneller und die Antworten auf ihre Fragen kürzer. Der Mann oben beugte sich weit vor und stützte seinen schweren, großen Oberkörper auf ein blaues Kissen mit abgewetzten Stickereien, das zu ihm gehörte wie ein Kleidungsstück. Er trug ein Kissen. Im Sommer und auch im Winter. Und er sah ihnen schweigend und voll Verachtung hinterher.

„Wer ist denn der Mann?“„Niemand.“
„Warum macht er immer so?“
„Weiß ich nicht.“
„Aber warum macht er denn immer so?“
„Sieh nicht hin.“

Als das Kind den Mann zum ersten Mal in seiner ganzen Gestalt sah, war es erstaunt. Mehr, als er am Fenster von sich zeigte, gab es nicht zu sehen. Es war fast ein Betrug. Er hatte diesen Kopf mit der breiten Nase, diesen schweren Oberkörper und da, wo sein linkes Bein sein sollte, war nur ein Oberschenkel, der Rest der melierten Hose war ordentlich unter dem Stummel zusammengefaltet. Das rechte Bein fehlte ganz. Seine Frau, eine dünne Person mit farblosem Gesicht, schob ihn in einem Rollstuhl über die Straße. Er weigerte sich stur, seine fehlenden Gliedmaßen unter einer Decke zu verstecken, wie es üblich war. Das Kind musste mit seiner Mutter dicht an ihm vorbei und es merkte, dass seine Mutter sich nicht gut dabei fühlte. Sie wartete auf eine Bemerkung oder das er sich an den Kopf griff, doch er ließ sich schweigend an ihnen vorbei schieben.
Niemand sagte irgendetwas. Keiner wünschte einen „Guten Tag“. Das kleine Mädchen starrte auf den Mann, auf seine Hose ohne Beine, sie konnte nicht anders, sie starrte in sein Gesicht.
Er hatte eine Narbe über dem linken Auge, wie ein weißer Kreidestrich zog sie sich bis zu seinen Wangenknochen. Seine Arme stützten sich auf die Lehnen seines Rollstuhles. Sie sah seine Hände, die eine fleischig und weiß, die andere steckte in einem schwarzen, ledernen Handschuh. Er blickte durch sie hindurch. Er gönnte ihr nicht einen Blick. Als sie vorbei waren, drehte sie sich an der Hand ihrer Mutter um, sie starrte ihnen nach, dem Mann und seiner dünnen Frau, der kleinen Prozession, die da schweigend an ihnen vorbeigezogen war, kam aus dem Schritt und stolperte. Das war das einzige Mal, dass sie ihn so sah und nicht am Fenster.
In dem Sommer, als sie alt genug war, um unbeaufsichtigt zu spielen, freundete sie sich mit Kindern aus der Nachbarschaft an. Sie spielten am stillgelegten Bahndamm und in den kleinen Schrebergärten, die gegenüber der Siedlung aufgereiht lagen, jeder mit einer winzigen Laube und Gemüsebeeten und mit kleinen Zäunen sorgfältig voneinander abgetrennt. Ihr Großvater lehrte sie in diesem Sommer das Fahrradfahren, und eines Sonntags spielte sie mit einem Jungen, der sie auf seinem phantastischen, orangefarbenen Polorad fahren ließ. An der Lenkstange wehte ein roter Wimpel. Sie fuhr alleine auf dem Rad, und er brachte sie später hinten auf dem Gepäckträger nach Hause.
Am nächsten Sonntag wartete sie auf den Jungen und das Fahrrad mit dem roten Wimpel. Er kam, und er hatte sein Fahrrad dabei und seine Geschwister. Er hatte noch zwei Schwestern und einen älteren Bruder. Sie gingen zum Bahndamm und spielten zusammen bis sie abends müde und schmutzig nach Hause kamen. Sie war glücklich. Der Junge und seine Geschwister gingen in das Haus, in dem Herr Mazurkewitz wohnte. Ihre Mutter erwartete sie und schimpfte, weil sie zu spät nach Hause kam und so dreckig war. Und sie sagte:
„Hier sind so viele Kinder. Musst du ausgerechnet mit den schrecklichen Tannemanns spielen?“„Die sind aber nett. Warum denn nicht?“, erwiderte das Kind trotzig und wunderte sich über das Verhalten der Mutter, die sonst selten unfreundlich über andere redete. Sie bekam keine Antwort mehr, und während sie hungrig ihr Abendbrot aß und ihre Milch trank, hörte sie ihre Mutter und ihre Großmutter leise miteinander reden. Sie hörte die Worte Tannemanns, das arme Fräulein Zunder und der Bekloppte.
Sie wusste, dass in ihrer Familie mit der Bekloppte Herr Mazurkewitz gemeint war, sie fragte nach und erfuhr schließlich, dass ihre neuen Freunde die Kinder seiner Tochter waren. Sie dachte darüber nach und fragte sich, wie jemand der so seltsam war, so nette Enkelkinder haben konnte und sie beschloss, sich keinesfalls verbieten zu lassen, mit diesen Kindern zu spielen.
Am nächsten Sonntag wartete sie vergeblich. Es regnete und niemand kam. Kein Junge auf dem Fahrrad, keines seiner Geschwister. Sie stand missmutig hinter der Gardine und sah auf die Straße hinunter. Einmal öffnete sie sogar das Fenster, nahm sich ein Kissen und lehnte sich vor. Sie war enttäuscht und langweilte sich. Als Leute vorbeikamen, pfiff sie runter, griff sich an den Kopf und zeigte ihnen einen Vogel. Sie wurde von ihrer Großmutter weggezogen, das Fenster wurde geschlossen und man schimpfte sie aus. Ob sie wie der Bekloppte sein wolle? Sie wollte nicht und war kleinlaut.
An diesem regnerischen, für sie gründlich verdorbenen Nachmittag nahm ihre Großmutter sie beiseite und erklärte ihr ein paar Dinge über August Mazurkewitz. Sie erzählte mit geheimnisvoll gesenkter Stimme eine Geschichte über ihn. Die ging so: August Mazurkewitz war in seinen jungen Jahren ein schöner Mann gewesen. Erst wurde er Bergmann, wie die meisten Männer hier in der Gegend, aber er war nicht tüchtig. Er kam zu spät zur Arbeit, war unzuverlässig und hatte „Frauengeschichten“. Dann wurde er schließlich Busfahrer, jemand der die Kinder der Umgebung in die Sommerfrische fuhr und wieder abholte. Keine glückliche Entscheidung, denn er war bekannt für seine Eitelkeit und seinen rasanten Fahrstil, berüchtigt dafür, wie er durch die Straßen raste - und dass er gerne trank. In einem Jahr Ende der 50er hatte er dann ein großes Unglück verursacht, von dem lange gesprochen wurde. Es war ein schrecklicher Unfall. Herr Mazurkewitz hatte Kinder aus ihren Ferien abholen sollen. Von den neunzehn Kindern kamen nur fünf zurück. Der Bus war in einer Kurve von der Straße abgekommen. Die junge Lehrerin war aus dem Fahrzeug geschleudert worden und wurde mit gebrochenem Genick gefunden. Vierzehn Kinder hatten den Tod in dem brennenden Bus gefunden. Mazurkewitz verlor bei diesem Unfall beide Beine und eine Hand, und er lag viele Wochen lang im Krankenhaus. Danach wurde ihm der Prozess gemacht. Zeugen sagten aus, er wäre nicht nüchtern gewesen, und er wäre viel zu schnell gefahren. Ihm wurde die Fahrerlaubnis entzogen, und er musste für mehrere Jahre in ein Gefängnis. Als er wieder nach Hause kam, war er sehr verändert. Ihre Großmutter unterbrach sich plötzlich und sah sie an, als wollte sie noch mehr erzählen. Aber dann zögerte sie und sagte nur den Satz, den das Kind so oft in diesem Zusammenhang gehört und den es nie verstanden hatte. Die Großmutter sagte lakonisch ihre kleine Litanei auf: „So ein Bekloppter. Die armen Kinder. Das arme Fräulein Zunder.“ Das war der Name der Lehrerin. Und das war alles, was das Kind an diesem Sonntag erfuhr…

Foto: Ohne Titel von Bert Schmidt

Oberhausen

Begegnungen

August Marzurkewitz Teil II

Als der nächste Sonntag kam, sah sie den Jungen und seine Geschwister in das Nachbarhaus gehen. Sie wartete, doch sie kamen nicht raus, um zu spielen. So ging sie runter auf die Straße und malte mit bunter Kreide Bilder auf den Bürgersteig. Sie lief hin und her und schielte nach oben zu seinem Fensterplatz, doch Herr Mazurkewitz lehnte nicht auf seinem Kissen.
Das Fenster war leer und geschlossen. Sie malte ein Fahrrad und Kinder. Sie malte einen Hund. Ein Mann und eine Frau in Sonntagskostümen kamen vorbei und sagten ihr, es wäre eine Schande, den Bürgersteig so zu beschmieren. Sie gab keine Antwort und als sie vorbei waren, streckte sie ihnen die Zunge raus. Aber das Malen war ihr verdorben. So setzte sie sich auf die Steine und fixierte die Fenster, hinter denen sie die Kinder vermutete. Sie verstand nicht, warum niemand heraus kam, um mit ihr zu spielen.
Irgendwann überquerte sie die Straße und ging zu dem Haus. Sie sah auf die Klingeln und suchte den Namen. Mazurkewitz. Sie schellte einmal. Niemand öffnete. Ihr Herz klopfte. Sie schellte noch einmal und die Tür gab mit einem Brummen nach. Da stand sie in dem dunklen, kühlen Hausflur. Alles war wie im Haus ihrer Großeltern und doch anders. Die Holztreppen hatten einen roten, abgewetzten Anstrich und auf dem Flur stand keine Blume. Am seltsamsten aber war der Geruch. Hier roch es ganz fremd. Sie blieb ängstlich unten im dämmrigen Treppenhaus stehen und wagte sich nicht weiter. Eine weibliche Stimme rief von oben:

„Wer ist denn da?“
„Ich.“
„Was willst du?“
Sie wusste keine Antwort und sah nach oben ins Treppenhaus. Es blieb leer, niemand zeigte sich.
„Meine Güte. Was willst du denn?“ Die unsichtbare Stimme wurde ungeduldig.
„Kommen die Kinder zum Spielen?“
Einen kurzen Moment herrschte Schweigen, dann sagte die Stimme:
„Geh wieder raus. Die kommen gleich. Mach die Tür hinter dir aber richtig zu.“

Sie gehorchte und stand wieder draußen auf der Straße im Sonnenlicht. Sie ging zurück zu ihrer Kreide und den Bildern. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet und sah nach oben. ER war dort, hing auf sein Kissen gelehnt am Fenster und sah sie an. Sie starrte zurück. Eine Weile belauerten sie sich. Da fasste er sich mit seiner gesunden weißen Hand an den Kopf, verzerrte das Gesicht zu einer Fratze und hämmerte gegen seine Stirn.
Sie sah erschrocken auf den Boden und konnte nicht reagieren. Sie fand ihn zum ersten Mal richtig hässlich und gemein. Warum tat er das? Versteinert spielte sie alleine weiter und kritzelte irgendetwas ohne Sinn auf die Steine. Sie vermied es, nochmals zu ihm hochzusehen. Dann kamen endlich die Kinder aus dem Haus, und sie lief erleichtert zu ihnen.
„Hallo.“
„Hallo.“
Die Kinder standen sich wortlos und verlegen gegenüber, vier gegen eines und etwas stimmte nicht.
„Wir spielen heute in unserem Garten“, sagte eine der Schwestern abweisend.
„Du darfst aber nicht mit“, sagte der Junge, der doch fast ein Freund war und der sie auf seinem schönen Fahrrad mitgenommen hatte. Sie blickte stumm und eingeschüchtert auf die grüne Strickjacke, die seine Schwester trug und sagte gar nichts. Einen Moment sprach niemand ein Wort. Dann drehten die Kinder ihr den Rücken zu, gingen die Straße runter und sahen sich nicht mehr nach ihr um. Und sie wagte nicht, nach oben zum Fenster zu sehen, ob ER wieder da hockte und sie anstarrte.
Nachdem die Sache mit den Kindern, die plötzlich nicht mehr mit ihr spielen wollten, passiert war, lief sie traurig und verwirrt zu ihrer Mutter. „Warum hat er mich so böse angestarrt? Ich kann doch nichts für den Unfall und dass er immer da oben am Fenster sitzen muss. Und das ist doch schon so lange her!“ Ihre Mutter wurde sehr ernst und nahm sie tröstend zu sich auf den Schoß. Und endlich erfuhr das Kind den Grund, warum Herr Mazurkewitz ihre ganze Familie nicht leiden konnte.

Ihre Mutter hatte helle kleine Narben an beiden Armen, am Bauch, an den Oberschenkeln - und sie hatte Angst vor großen Hunden. Sie wechselten jedes Mal die Straßenseite, wenn ihnen ein Mensch mit einem großen Hund entgegenkam. Auch, wenn er an der Leine war. Als August Mazurkewitz damals aus dem Gefängnis kam, hatte er sich einen Schäferhund geholt, den er draußen im Hof in einem Zwinger hielt. Er sprach nicht mehr, er grüßte keinen der Nachbarn, und es hieß, er spreche nicht mal mehr mit seiner eigenen Familie, mit seiner Frau und seiner Tochter. Er interessierte sich nur noch für diesen Hund, dem seine ganze Zuneigung gehörte. Er dressierte ihn, sprach ständig mit ihm, streichelte ihn, ging mit ihm zu einem Übungsplatz und verwöhnte ihn großzügig mit Leckereien. Von seinem Rollstuhl aus führte er den Hund, den er Harlekin nannte, an der Leine spazieren. Er bot den Anderen einen befremdlichen Anblick, wenn er mit seinen verstümmelten Gliedern und voll Bitterkeit an ihnen vorüberrollte, die wenigen Worte, die er sprach, nur seinem Hund gönnend. Im Jahr 1966 gab es einen sehr heißen Sommer und Herr Mazurkewitz wurde krank und konnte das Haus nicht verlassen. Er hing den ganzen Tag im Fenster und beobachtete die Leute, die Kinder auf der Straße, die Hausfrauen, die vom Einkaufen kamen, seine eigene Tochter, die nun den Hund ausführte. Er sprach vom Fenster aus mit seinem Hund Harlekin und schmiss ihm kleine Wurststückchen auf die Straße. Ihre Mutter, die damals noch ganz jung war, machte in dieser Zeit eine Ausbildung als Schneiderin in der Stadt. Es war ihr erstes Lehrjahr. Als sie an einem Nachmittag in dem heißen Sommer von der Arbeit kam, begegnete sie vor ihrem Haus der Tochter von August Mazurkewitz und dem Hund, und sie blieben stehen, um zu plaudern. Sie waren in einem Alter, beides sehr junge Mädchen in ärmellosen, pastellfarbenen Kleidern. Die Mutter mochte den Hund und streichelte ihn. Vielleicht, weil es so heiß war an diesem Tag, vielleicht, weil Hunde manchmal unberechenbar sind: Der Hund wurde plötzlich aggressiv und schnappte zu. Er biss der Mutter in die Hand, und die Hand blutete. Und dann sprang er an ihr hoch, und die Andere hatte den schweren Hund nicht halten können. Die Mutter war hingefallen und lag unter dem Hund. Und der Hund geriet daraufhin außer sich. Sie hatte ihr Gesicht mit den Händen bedeckt und versucht, sich zu schützen. Aber der Hund hatte zugebissen. Sie trug nur dieses dünne Sommerkleid und sie hatte geschrieen.
Sie schrie schrecklich. Der Hund biss in ihre bloßen Arme, in ihre Hände. Das Kleid rutschte hoch, er biss ihr in den Bauch, in die nackten Beine. Sie spürte ihr warmes Blut und hörte ihr eigenes schrilles Geschrei, und das andere Mädchen konnte den Hund nicht zurückhalten. Die Mutter erinnerte sich noch Jahre später an jede Kleinigkeit dieses Vorfalls und das Kind sah erschrocken in ihr blasses Gesicht, während sie erzählte: „Es hatte so lange gedauert, der schwere Hund über mir und die Geräusche, die er machte, sein Geruch, sein warmer Atem, sein Fell, die Krallen an seinen Pfoten. Und ich habe nur noch schreien können und gedacht, er würde mich tot beißen.“
Auch Herr Mazurkewitz hatte geschrieen, dort oben am Fenster. Er lehnte sich so weit raus, wie es ihm möglich war. Er schrie seinen Hund an. Er schrie den Namen des Hundes. Immer wieder, seine Stimme überschlug sich vor Aufregung und Angst und Wut, doch der Hund hörte nicht auf ihn. Er trug ein Stachelhalsband, und irgendwann bekam die Tochter von August Macurkewitcz ihn daran zu fassen, und der Hund würgte, weil er keine Luft bekam und ließ endlich los. Sie konnte ihn einen Moment lang wegziehen und der blutüberströmten Mutter war es gelungen, auf allen Vieren wegzukriechen. Dann waren andere Leute da, die den tobenden Hund hielten und die ihr aufhalfen.
Sie stand unter Schock und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Dort blieb sie zwei Monate, den ganzen Sommer lang. Ihre Chefin, die Schneidermeisterin, besuchte sie im Krankenhaus und sah sich ihre Arme an, auch ihre verletzten Hände, mit der sie in den nächsten Wochen nicht würde nähen können. Die Chefin redete ihr lange zu, gegen den Besitzer des Hundes, der sich nicht bei ihr entschuldigte, der ihr keine Grüße ausrichten ließ und der ihr keine gute Besserung wünschte, zu klagen. Erst hatte sie nicht zustimmen wollen, weil es ein Nachbar war, aber dann hatte sie es schließlich getan. Sie gewann den Prozess, und August Mazurkewitz, der die Meinung vertrat, niemand, absolut niemand hätte seinen Hund anfassen dürfen, musste ein hohes Schmerzensgeld bezahlen. Und er musste seinen Hund Harlekin einschläfern lassen. Da war dieser Mann außer sich vor Wut und Trauer über diese grausame, unbekannte Größe, die es stets auf ihn allein abgesehen zu haben schien und die er laut anklagte – im Gericht hatte er so laut gebrüllt, dass man ihn in seinem Rollstuhl weggefahren hatte. Er war außer sich vor Verzweiflung über die ihm zugefügten Ungerechtigkeiten. Und er war untröstlich über den Verlust seines Hundes. Der Zwinger im Hof blieb daraufhin leer, einen neuen Hund holte er sich nie wieder.
Nachdem die Mutter diese Geschichte erzählt hatte, veränderte das Kind sein Verhalten. Der seltsame Herr Mazurkewitz barg kein Geheimnis mehr, und die Geschichte seines Lebens, sein ewiges, trübseliges Starren am Fenster, machte sie nur noch traurig. Wenn sie in den folgenden Jahren an dem Haus und dem Fenster, wo er saß und brütete, vorbeiging, beschleunigte sie ihre Schritte, genau wie ihre Mutter es tat. Sie vermied es, zu ihm hoch zu sehen, wie sie es sonst immer gemacht hatte. Sie starrte ihn nie mehr neugierig an und wartete auch nicht auf die absurde Geste, die er mechanisch machte. Jedes Mal.

Silke Vogten

Die Fotografen: Bert Schmidt wurde in Rüsselsheim geboren, absolvierte sein Filmstudium in Paris und arbeitet heute als Regisseur und Produzent (Strandfilm Produktion GmbH). Dirk Bannert fotografiert gerne und gut. Und professionell, nämlich hauptberuflich. Er lebt am Niederrhein.
Die Texte: "Jimmi macht dat für Nüsse" erscheint Mitte November im Lyrik-Band "Freies Spiel" und "August Mazurkewitz" in der Reihe "Shortstory" (beides: Spottiswood-Edition)

Foto: Schrebergärtner in Oberhausen-Osterfeld von Dirk Bannert