Editorial

 

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

da stehen wir nun. Ende 2012, das Jahr ist fast vorbei. Da heisst es erst einmal Abschied nehmen. Sind wir angekommen? Gute Frage.

Wir suchen weiter – auch nach Antworten.

Eure,
Flora Jörgens und Silke Vogten

Foto: She Wolf. Von Michael Dressel

Am Ende - Ankommen

Hinter der Berliner Mauer

(für Dora Heinze, Wallstraße)

Sehnsucht
hat deinen Mond verfärbt;
ein grelles Rot
überdeckt
Trotz und Traurigkeit.

In der Mauer
schreibt noch kein Wort
Öffnung vor.
Ein Weiser
schrieb auf Beton:
“Geteiltes Leid
ist halbes Leid!

Wo gehst du hin,
wenn des Liebsten Schatten
in der Menge zerfurcht
und zerfasert,
seine Schritte
nicht wiederkehren
aus Fremde und Wirrnis?

Was willst du tun,
wenn die Sonne
in das andere Land wechselt
und sich weigert,
dein Spiel mit dem Feuer
gut zu heißen?
(Berlin 1973)

Reiner Brückner

Jungs in Berlin

gestrandet gelandet
und unermüdlich
weiter unterwegs

gezeichnet gewappnet
und niemals
ganz konkret

gebuildet gefastet
und körperlich
im Krieg

mit Frauen
mit Arbeit und mit Nahrung
echt kein leichter Sieg

Tabellen
über Drogen
Aufforderung zum Tanz

Verzicht
auf alles Rauschen
Kopf mit Dornenkranz

mal sehen
wo es hin geht
mit oder ohne Bauch

denn Jungs
über 40
das seid ihr leider auch…
(Berlin fast 2013)

Silke Vogten

Foto: Bus Stop. Von Michael Dressel

Am Ende - Alles einsetzen

Shakespeare 75

Du bist das Brot, das meine Seele nährt,
der Regen, der das trockne Feld bestellt;
hab mich nach deinem Frieden so verzehrt
wie Wucherer nach Reichtum und nach Geld.

Kann dich genießen ohne Bitterkeit,
denk dennoch Zweifel wird uns dereinst trennen;
ich schwelge grenzenlos in Zweisamkeit
und muss uns dennoch aller Welt bekennen.

Bin übersatt vom Festmahl deines Blicks
und trotzdem hungrig nach dem kleinsten Wink;
bin Sucher, bin Besitzer nur des Glücks,
das von dir kommt, der Rest, ach, ist gering.

Verzehre mich, werd satt tagaus tagein,
hab alles, aber setz auch alles ein.
(Urfassung: 30. Juli 1967, überarbeitet 12. September 1991 – Berlin, dann geringfügig 2007/2008 – Köln)

Reiner Brückner

Nachdem Reiner Brückner, Köln, Jahrgang 1943, Shakespeares "Sonette" neu übersetzt hat - die größte und schönste Herausforderung für einen Dichter, Übersetzer und Shaki-Liebhaber (...Proben waren bereits auf WDR 5/"Liegen bleiben", Pfingsten 2012, zu hören) - beschäftigt er sich wieder mit seinen eigenen (Gelegenheits-)Gedichten - u.a. aus 68er Vorzeit in Berlin.

Foto: Small Kino. Von Michael Dressel

Am Ende - Von Anfang an klar

Vorfreude und Nachtrag

Eine Vorfreude freute sich
vor,
wie sich`s gehörte.
Es kümmerte sie Null
und nicht,
wie Nachtrag sich empörte.

Nachtragend wie Nachtrag war,
verzieh
er es ihr nie.
Mir war das von Anfang
an klar.
Überrascht war ausschließlich sie.

Julia Torres

Julia Torres, Schauspielerin, tritt regelmäßig mit eigenen Programmen und Lesungen auf. Am 14.12. zusammen mit Silke Vogten im Siegburger Atelier „Rosa Aussicht“, Albertstr. 3, um 20.30 Uhr: „Weisse Worte“. Mehr dazu unter www.juliatorres.de
Michael Dressel lebt seit vielen Jahren in Kalifornien und arbeitet als Sound-Editor für große Hollywood-Produktion. Wenn er - was selten passiert - mal wieder in seine Heimatstadt Berlin kommt, wundert er sich und zückt die Kamera. Die neuesten Motive finden sich auf seiner Facebook-Seite.
Rainer Resch hat in seiner unmittelbaren Nähe in Köln Abstraktes gefunden oder besser: Gegenständliches, das er, ohne es zu verfremden, einfach fotografiert hat, und das trotzdem abstrakt wirkt.

Foto: Waitress. Von Michael Dressel

Foto: Abstraktes im Nahbereich. Von Rainer Resch

Am Ende - Ankommen

Rückblick

Ein Jahr ist vorbei, und hier könnte eine Art Rückblick auf Neu-Veröffentlichungen stehen. Lassen wir aber, machen die Feuilletons der Zeitungen sowieso. Und Rezension war nie unsere Intention :-) Aber etwas nehmen wir hier noch rein. Eine junge Schriftstellerin hat einen Roman geschrieben mit dem Titel „Blasmusik-Pop“. Vea Kaiser, 24, sieht klasse aus, ist eloquent und heimst Preise ein. Blasmusik, Berge – das scheint schön schräg zu sein.
Aber unerwarteterweise drängt sich dreist ein anderes Buch dazwischen. Es ist auch von einer (damals) jungen Schriftstellerin; fast 40 Jahre liegen zwischen den Veröffentlichungen. Mit ihrem Erstling „Angst vorm Fliegen“ gelang Erica Jong ein Bestseller, ein „Skandalbuch“, wie es damals hieß. Naja.
Zugegeben: zwei Bücher parallel zu lesen ist so eine Sache. Aber neben der Jugend der Autorinnen gibt es noch ein paar Gemeinsamkeiten, die das vielleicht rechtfertigen. Beide Schriftstellerinnen sind z.B. Literaturwissenschaftlerinnen, beide Geschichten spielen in Österreich, beide beschäftigen sich mit Forscherdrang... Also los:
Vea Kaisers Roman spielt um 1960 herum in einem kleinen Berg-Dorf. Das ist irgendwie unstimmig, die Schilderungen des Lebens dort beschreiben eher ein anderes Jahrhundert. Auch sprachlich bleibt die Autorin karg wie ein Dorfchronist, der noch die Feder eintauchte. Nüchtern wie ein Jahrbuch – was ja nicht schlimm ist bei all den vielen heiteren Erzählungen auf dem Markt - aber der betuliche Duktus ist auch keine echte Alternative zur jungen, ambitionierten Literatur.
Daher flugs ins andere Buch gewechselt, dessen Geschichte in der österreichischen Großstadt beginnt, bei einem Psychonalytiker-Kongress. Die Protagonistin Isadora Wing hat schon bei einem guten Dutzend der Seelendoktoren auf der Couch gelegen, vergeblich.
Vea Kaisers Hauptfigur hingegen, ein ungebildeter Schnitzer, leidet hauptsächlich physisch: an einem Bandwurm... hmmpf. Daher geht in die Stadt: um Doktor zu werden... hhmm. Was ihm auch gelingt... ? ganz ohne Probleme. Soweit die ersten - ca. 50 - langen Seiten.
Erica Jongs Ich-Erzählerin Isadora, Akademikerin, Dichterin, New Yorkerin, hingegen kämpft. Ständig. Zum Beispiel gegen ihre Unentschlossenheit, die Langeweile einer festen Beziehung, ihre Männerfixiertheit. Sie ist eine moderne Abenteuerin, aber absolut keine gewiefte Aufreisserin oder gar femme fatale. Eher noch ein Trampel. Sie findet ihren Hintern zu dick, tritt in jeden Fettnapf und gerät bei der ständigen Suche nach einem Spontanfick garantiert an einen egozentrischen Idioten, in den sie sich zu ihrem eigenen Ärger auch noch verliebt. Zielgenau steuert sie jedes Mal ins Auge eines Hurricans. Und das nicht zufällig sondern nur unkontrolliert. Dabei kann sie ganz schön dünkelhaft sein, großkotzig, rücksichtslos. Im nächsten Moment wieder ängstlich, verzagt, voller Selbstzweifel und Gewissensbisse. Das komplette Gefühls-Barometer, hoch/tief, ständig purzeln die Hormone während Isadora durch Europa taumelt. Aber nicht in „Zügen mit großen Namen“, sondern in schmierigen Abteilen, die nach „verfaulten Bananen“ und „durchgefurzten Sitzen“ riechen.
394 kurze Seiten, saftig, prall, deftig, filigranes Frauen-Kopf-Gedöns auf Achterbahnfahrt, erschienen 1973. Dagegen wirkt der „Blasmusik-Pop“ leider noch umso blutleerer. - „Blasmusik-Pop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ von Vea Kaiser, 2012, Kiepenheuer & Witsch, www.kiwi-verlag.de

Flora Jörgens

Am Ende - Ankommen

Zwischen den Jahren

Eines geht
Eines kommt

Schnee
macht alles still

Weiß
so weit es schneit

Dazwischen
liegt die blaue Ruhe

und niemand
der uns hier erreicht

Silke Vogten

Was kommt

Escapade belles-lettres geht auf Weltreise. Wir sehen uns aber wieder mit hoffentlich schönen Impressionen von unterwegs.
Flora Jörgens und Silke Vogten

Foto: S-Bahn. Von Michael Dressel