Editorial

 

Liebe Freunde, Kollegen, Medienschaffende,

schon mal gemerkt, wie prosaisch der Alltag sein kann?

Für alle, die sich gerade nicht weit entfernt in anderen Gefilden herumtreiben, zeigen wir ein paar Beispiele des ganz normalen Wahnsinns…

Denn die verbergen sich für uns in den schnell hingeschriebenen SMS-Nachrichten oder eilig bemalten Schmierzetteln, die uns die Künstler unserer aktuellen „Escapade“ servieren.

Voilà, hier kommt sie – die Prosa des Alltags!

So weiß Schriftsteller Stefan Wimmer genau, was er letzten Sommer (oder die Sommer davor?) getan hat. Und verschickte und sammelte unermüdlich auf der Suche nach dem nächsten heißen Flirt oder in Erwartung der exorbitantesten aller Liebesnächte seltsame kleine Kurznachrichten seiner möglichen (und unmöglichen) amourösen Gespielinnen…

Graphiker Rainer Resch hingegen ist damit bereits stoisch durch und fühlt sich lieber vom Alltag gezeichnet. Dafür rächt er sich auf seine Weise – und zeichnet gnadenlos zurück. Wie ließe sich sonst besser die Zeit bei einem mörderisch langweiligen Telefongespräch mit möglichen (und unmöglichen) Geschäftspartnern vertreiben? Für uns öffnet er sein graphisches Tagebuch.

Am Ende unserer sehr langen Ausgabe findet Ihr einen ausführlicheren Hinweis auf die nächste „Escapade vous presente“-Veranstaltung. Am 12.7. heißt es: Ein Mann liest zurück! Der Grimme- und zweimalige Deutsche-Fernseh-Preisträger Thomas Koch stellt seine eigenen Ghostwriter-Werke vor.
Pseudo-Prosa mit Lach-Garantie in der Fiffi-Bar, Köln.

Nun lächelt aber erst einmal den Alltag weg. Viel Spaß beim Scrollen wünschen

Eure,
Silke Vogten und Flora Jörgens

 

Prosa des Alltags

Suzanne (26)

Gazelle mit geschlitztem, schwarzem Seidenkleid und Stöckelschuhen. Sie saß bei der WM-Übertragung in der Cafeteria der Musikhochschule, die Beine teuflisch schön übereinander geschlagen. Ich hätte auf Cellistin oder Geigerin getippt. Zufällig hing ihr Foto bei einem Tutoren-Aushang am Schwarzen Brett, so gelang es mir, ihre Telefonnummer zu recherchieren. Daraufhin SMS geschickt: Ein geheimnisvoller Fremder würde dich gerne kennenlernen... etc. Ein leidvolles Geplänkel begann: Wie weißt du überhaupt meinen Namen? – Woher willst du wissen, dass du mir gefällst? – Warum bleibst du anonym? Damit verringerst du deine Chancen! Nachdem ich ihr durch ein paar erklärende SMS Vertrauen eingeflößt hatte, kam der Durchbruch: Na gut, morgen auf einen Drink. Am folgenden Tag Panik: Gestern gab’s heftigsten Stress mit meinem Freund, weil er deine SMS gelesen hat! Sorry, aber sowas kann ich zur Zeit echt nicht brauchen! Das war eine blöde Idee, bitte schreib nie wieder! Ich schrieb ihr postwendend den Liedzyklus „An Deine Liebesgrotte“ (I - XCII) zurück.

 

Bine (22)

Badenserin mit winzig kleinem Schlitzmund, Meg-Ryan-Fransen und dem Gesicht eines hutzeligen Tiers. Eine Bekannte hatte sie mir vorgestellt, um uns miteinander zu verkuppeln. Die beiden wollten an diesem Sommerabend unbedingt in den komplett leeren „Raum Rot“, wo nur die Barkeeper herumstanden und brutal lauter House peitschte. Das Gute an der House-Musik war, dass sie Bines Erzählung, wie sie von ihrem letzten Freund jahrelang psychisch gefoltert wurde, fast völlig übertönte. „Warum verlassen wir nicht diesen schrecklichen Ort und setzen uns mit einer Flasche Wein ans Isarufer?“, schlug ich vor. Bine vertröstete mich auf nächste Woche, in der sie als Katzen-Sitterin in Maisach für 10 Euro pro Nacht arbeiten musste. Hallöle, schrieb sie, heut werd i in Maisach bleibe, damit si die Miez an mi gwöhnt. Dann: Für Dienstag muss i leider absage. War eben beim Tierdoc, Miez wird operiert. Sorry, muss nu Rinderherzle schneide. Weiter: Heut bin i au mit dem Tierle verplant. So is die Miez in ihrem Lebe no ned verwöhnt worde. I geb ihr Leckerli, Streicheleinheiten und Kuschelfellmäuse zum Spielen. Obwohl ich den Dialekt schon als stark ehrenrührig empfand, ließ ich mich zu folgender SMS hinreißen: Werde ich auch mal mit Kuschelfellmäusen verwöhnt? Drei Tage später wurde ich aufgeklärt: Du, i glaub, wir lasse den Kontakt lieber. Dei letzte SMS war mir echt zu krass.

 

Rainer Resch, Jahrgang 1954, wurde in München geboren und lebt seit vielen Jahren in Köln, gerade in Wesseling. Er zeichnet und gestaltet – im Auftrag seiner Brötchengeber und anderer höherer Mächte. Viel lieber sammelt und genießt er aber Musik.

 

Tatjana (21)

Grazile Lettin aus Riga mit flammendroten Haaren und halbwahnsinnigem Kichern. Ich schleppte sie von der Fußgängerzone weg direkt in die „Favorit Bar“, wo sie sich peepshow-artig auf dem Sitzpodest räkelte. Eine halbe Stunde später musste sie gehen, weil mysteriöse „Leute“ in noch mysteriöseren Wohnungen auf sie warteten. In den folgenden Wochen erreichten mich SMSn aus Freiburg, Köln, Zürich, Bochum: Dein Blick verfolgt mich die ganze Zeit. Das ist Hexerei! –Deine Stimme ist immer mit mir, du bist ein Zauberer! –Diese Sehnsucht nach dir zerreißt mir das Herz! Wann darf ich zu dir kommen? –Ich vermisse dich schrecklich! Wie gerne will ich zu dir entführt werden! in Psycholinguistik zog ich den Schluss, dass es sich um vorfabrizierte Sammel-SMS-Anheizer handelte, die außer mir noch einige andere Adressaten erhielten. Ich lud sie ein paar Mal nach München ein, aber es kamen immer durchtriebene Absagen: Diesmal geht es nicht – leider! Bin beim Bergsteigen im Oberengadin. Sechs Männer und ein Mädchen – ich! Berge sind meine Leidenschaft. Der Hüttenzauber hätte mich doch interessiert.

 

Doreen (23)

Burschikose, nette Fränkin mit Dauerwelle, die in einem Schwabinger Käseladen verkauft. Am Abend fragte sie mich nach meiner Handynummer. 19.32 Uhr erste SMS: Lieb grüßelt die Käsetheke. Was machst du heute Nacht? Perplex antwortete ich, dass ich schon verabredet sei und sie morgen anrufen werde. 19.34 Uhr: Das will ich schwer hoffen! 19.35 Uhr: Lass uns chatten, bis du deine Verabredung hast! 19.37 Uhr: Dies ist eine SMS-Bombe von der Käsetheke. Auftrag: Süßes Zielobjekt bombardieren! Code angenommen, Anzahl: 100, Start in: 3 Sek. Mittlerweile hatte ich kalte Schweißausbrüche. 19.41 Uhr: Haha, ich bin jetzt im Bauchtrainer, komm doch später in der Nacht vorbei! 19.42 bis 20.30 Uhr: 15 weitere SMS, die in der Drohung gipfelten: Bleib ja brav mit deinem Date, das rat ich dir! Natürlich war es verlockend, den totalen Machtkick auszuleben („Knie dich im Flur hin und beweg dich nicht. Daddy kommt um Mitternacht!“). Aber dann stellte ich mir vor, wie sie mir während des Eisprungs mit ihren von den Käselaibern trainierten Fäusten den Pariser wegreißt und verwarf meine Allmachtsphantasien.

 

Vivian (26)

Kindererzieherin mit „sentimentalischen“ (Schiller) Augen, Wespentaille und brünetten Löckchen bis zum Po. Am Föhringer See setzte sie sich in einem extraknappen String-Bikini neben mich – mit der Klage, dass sie seit zwei Monaten nach Sex lechze. Ich rieb mir die Ohren und hörte nochmals die Vollversion: „Ich liebe diesen Mann abgöttisch! Von der ersten Sekunde an wusste ich, dass ich ein Kind mit ihm haben will. Und jetzt seit zwei Monaten läuft er davon, weil er sich um seine Familie Sorgen macht. Er geht nicht mehr mit mir ins Bett, seit neun Monaten, weil er verhindern will, dass ich schwanger werde! Und seine Frau bekommt dagegen schon wieder ein Kind von ihm! Aber das wird er bitter bereuen! Ich werde ihm bald zeigen, was Verlust bedeutet!“ Auf meine Einladungen zum therapeutischen Grillen an der Isar hat sie mit SMS geantwortet, die in ihrem Befehlston wahrscheinlich die normale Sprechweise in Kindergärten war: Das kannst du vergessen! – Nein! Akzeptiere meine Entscheidung! – Habe wirklich was Besseres vor! Gott gnade der Ehe ihres Opfers.

 

 

Natalya (26)

Russin mit breitem, halbwegs intelligentem Bauerngesicht. Sie saß mit zwei Freundinnen im „Sausalitos“, dick geschminkt und in Tank-Tops und Hüfthosen mit Nietenleisten gezwängt. Jedes der Mädchen hatte zwei Handys vor sich auf dem Tisch liegen. Wenn die Handys nicht klingelten und vibrierten, starrten sie sie strafend an. Ich fragte sie, ob sie in München studieren oder arbeiten, aber sie schnaubten nur, so als sei das eine wie das andere eine Beleidigung. An einem trüben Tag habe ich die Hübscheste der drei Grazien angerufen. Während des Telefonats gähnte sie unablässig, ihre Müdigkeit schrieb ich nächtlichen – natürlich dubiosen – Aktivitäten zu. „Vielleicht ich rufen an“, meinte sie. Vier Wochen später schickte ich ihnen aus der Badewanne zum Spaß folgende SMS: Smirnoff und ich sitzen hier am Swimming-Pool unseres Penthouses, nur Ihr fehlt noch! Daraufhin hat sie mir allen Ernstes Wo, zahlt ihr Taxi? zurück geschrieben.

 

 

Prosa live

Mit Bildern und Musik

 

„Meine Bücher gibt es in keinem Buchladen und meine Autoren kommen garantiert in keine Talkshow!“ sagt Thomas Koch, der für seine Arbeiten als TV-Autor (Ritas Welt, Nikola, Der Lehrer, Alles Atze) mit einem Grimme- und zwei Fernsehpreisen ausgezeichnet wurde.
Mit seinem ersten Bühnenprogramm lädt der langjährige WDR-Radiomoderator zu einem satirischen Leseabend ein, bei dem er sich als äußerst vielseitiger Ghostwriter präsentiert und höchst unterschiedliche Bücher vorstellt.
Fiffi-Bar, Severinswall 35, Köln-Südstadt, Montag, 12.7.2010, einfach kommen oder besser: reservieren 0176/62 92 65 69

So war’s

Gar nicht prosaisch: spannend

 

Als Peter Rüchel uns am 10.6. vom „Rockpalast“ erzählte - mit Backstage-Fotos und Konzert-Ausschnitten - waren alle begeistert und forderten Zugabe. Die wird es geben: in der Vorweihnachtszeit in der Fiffi-Bar.

Leser-Prosa

Und link-likes

„Die neue Escapade hat mir gut gefallen; muss allerdings Herrn Wigand davon unterrichten, dass das nix wird mit seiner Liebäugelein mit dem Präsi-Thron da ich nämlich die Revolution plane (die Zeit ist reif, der Mob kann endlich mal aufmucken und sich erheben, finde ich): mit anschließender Einführung der Diktatur und dann ist Schluss mit sinnloser Demokratie. Ich werde dann natürlich Diktatorin und da kann der Herr mal gucken wo er bleibt…. Auch die Badekappengeschichte: sehr schön! Hatte ich total vergessen, dieses Utensil meiner Kindheit und direkt auch wieder den Geruch der seltsamen Gummikappe in der Nase. Alles nachvollziehbar und selbst gesehen oder erlebt – bis auf das Entsorgen von schon Anverdautem - diese Nutzungsmöglichkeit war mir neu…“ Bernharde

„Es ist genial - und das meine ich ganz wörtlich - was ihr euch immer einfallen lasst. Wo ist der Quell dieses Ideenreichtums? Das ist nun die zwölfte Escapade, und sie ist immer noch so frisch und spritzig wie die allererste. Die 12 gehört eindeutig zu meinen Lieblings-Escapades.“ Escapade-Anhängerin aus Leidenschaft, Melina

„Hab´s ja schon Silke geschrieben - wirklich schön, die neue Ausgabe. Bin Eurem Aufruf gefolgt und lag nackig an der Krummen Lanke bei herrlichem Sonnenschein... :-))“ Liebe Grüße, Ina Staner

„Wundervoll geschrieben, herrlich wild und schmunzelnd gelesen und durch's Hirn verwirbelt. Bei all dem über-überlegten Zeug, das die Tagesmedien von sich geben und am End doch vielzuviel Unsinn verbreiten, schreibt Ihr direkt aus den Köpfen der Mensch und transportiert damit den wahren Zeitgeist. Mag ich.“ Anuschka

www.die120tage.de
www.initiative-akku.org
www.michael-dressel.com
www.maitemaite.com
www.annacloud.de